Ein Schneesturm zu Weihnachten und die Kinder schrecklich allein daheim: Hatten wir das nicht schon einmal so ähnlich bei Kevin allein zu Haus? Im Animationsfilm That Christmas, mit dem idiotischen deutschen Titel Ein klitzekleines Weihnachtswunder, ist ein Teil des Nachwuchses des beschaulichen britischen Dorfes Wellington-by-the-Sea an Heiligabend ebenfalls allein zu Haus. Die Gründe dafür sind aber sehr unterschiedlich. Ein Junge namens Danny verbringt Weihnachten einsam, weil seine Mutter, die Altenpflegerin ist, arbeiten muss. Sein getrennt von der Familie lebender Vater konnte wegen des Sturmes nicht kommen. Doch plagen ihn noch andere Herzensnöte: Heimlich ist er in die schüchterne Mitschülerin Sam verliebt, die sich allerdings mit ihrer frechen, ständig Streiche spielenden, Schwester herumplagt. Die Kinder einer Großfamilie genießen die sturmfreie Bude zum Festtag. Ihre Eltern waren bei einer Party auf dem Festland und haben es nicht mehr rechtzeitig zurückgeschafft. Und selbst der leicht tolpatschige Santa & sein überarbeitetes Rentier mühen sich, beim heftigen Schneefall durchzukommen und alle Geschenke noch rechtzeitig zu verteilen.
Genügend Konflikte also für einen turbulenten, familienfreundlichen Weihnachtsfilm mit erwartbarem Verlauf. Doch Simon Otto, der auf Netflix für die animierte Anthologie-Serie Love, Death & Robots verantwortlich zeichnete, überrascht in That Christmas bei aller Vorhersehbarkeit mit überraschend progressiven Einstellungen zum Thema Weihnachten. Die rebellische Bernie, die in Abwesenheit der Erwachsenen auf die jüngeren Kinder aufpasst, nutzt die Gelegenheit, um mit allen Traditionen zu brechen: Die Truthähne des profitgierigen Bauern wurden aus der Käfighaltung befreit. Nun gibt es zum Fest Pizza statt Braten und der traditionelle Familien-Strandspaziergang wird radikal gekürzt. Die Kirche spielt keine Rolle und in den Dialogen ist sogar von Veganismus und Klimakatastrophe die Rede. Irgendwie passt es dazu, dass die Kinder es in Abwesenheit der Eltern richten und früh Verantwortung übernehmen müssen. Das war zwar gewissermaßen bei Kevin allein zu Haus 1990 auch schon so, geschieht hier aber doch mit merklich anderen Vorzeichen, viel stärker in der Realität verankert. Das klassische Familienideal findet in That Christmas nicht mehr statt: Dannys Eltern leben getrennt, die Frau des Leuchtturmwärters liegt im Sterben und Dannys strenge Lehrerin hat nach dem Tod ihres Mannes jeglichen Lebensmut verloren. Und Bernies bunt-diverse Patchworkfamilie fällt ebenso deutlich aus dem üblichen Rahmen.
Das Drehbuch von Richard Curtis (Tatsächlich…Liebe) verhandelt solche gesellschaftspolitischen Themen wenig überraschend aber eher beiläufig, inszeniert mit der für einen Familienfilm gebotenen Leichtigkeit. Deshalb ist auch von Anfang an klar, dass die verschiedenen Handlungsstränge auf ein obligatorisches Happy End zulaufen. Dennoch erteilt That Christmas der heilen Welt althergebrachter Weihnachtsfilme eine Absage. Richtig zu Ende gedacht ist das aber nicht. Denn mit seiner feierlichen Stimmung, dem drolligen Santa und seinem knuddeligen Gefährten bestätigt der Film gleichzeitig viele liebgewonnene Traditionen und Rituale. Im Kern steht dann doch gute komödiantische Unterhaltung zum Fest: Vor allem in der ersten Hälfte sitzen viele Gags: Die aus dem Ruder laufende Weihnachtsaufführung, die Befreiung der Truthähne und Dannys unfreiwilliges Schul-Nachsitzen am schneefreien Tag bereiten viel Spaß. Und dass der Film auch in der etwas schwächeren zweiten Hälfte nie ganz seinen Schwung verliert, liegt nicht zuletzt an der fulminanten Musik von John Powell (Wicked), der hier stilistisch direkt an seine sinfonischen Musiken zu Drachenzähmen leicht gemacht anknüpft.
Powell ist im Animationsgenre natürlich inzwischen ein alter Hase. Und das hört man auch jeder Sekunde seiner Arbeit zu That Christmas an. Wer schon die ein oder andere seiner Musiken kennt, dem wird hier vieles vertraut vorkommen: Sei es die harmonischen Wendungen in den romantischen Szenen oder die luftigen Scherzi, wenn die Truthähne die Flucht ergreifen. Da sind selbst die demnächst mit einem Vierteljahrhundert auf dem Buckel rennenden Hennen aus Chicken Run (2000) nicht weit. Doch auch wenn sich Powell hier also keineswegs neu erfindet, so hat er doch als Komponist einen beträchtlichen Reifeprozess hinter sich gelegt. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der detailverliebten Instrumentierung, die immer wieder einzelnen Instrumenten wie den Flöten, Blechbläsern oder dem Klavier glänzende Soli verschafft. Dazu begeistert die Musik durch ihr variationsreiches Spiel mit den Themen. So präsentiert sich das Hauptthema zunächst als kraftvolle Ouvertüre in Meet the Heroes. Die Melodie selbst erinnert an das traditionelle englische Weihnachtslied God Rest You Merry, Gentlemen und setzt dementsprechend einen überzeugenden feierlichen Rahmen für Powells Komposition. Flankiert wird das markante Thema von einer Art Subthema, einer lyrischen Streichermelodie, die den innigen Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft beschwört und gleichzeitig als kleines Liebesmotiv für Danny und Sam (in Sticky Notes auf der Solo-Gitarre zu hören oder in Meet the Heroes ab Minute 2:20) dient. Dazu gibt es eine Reihe kleinerer Motive, die einzelnen Figuren und Kontexten zugeordnet sind: So wird die strenge Lehrerin reizvoll von schwerem Blech eingeführt (Snow arrives ab 2:36), gibt es ein hüpfendes Motiv für die aufbegehrende Bernie (Meet our Heroes ab 3:05) und etwas funkelnde Schneemagie im Glockenspiel zu Beginn von Snow arrives. Bemerkenswert ist dabei immer wieder die detailreiche Verarbeitung dieser Leitmotive. Powell gewinnt ihnen immer wieder neue Facetten und Stimmungen ab.
Besonderes Schaustück der Komposition ist das neunminütige Searching and Finding. Das ist im Film die Musik, die die Suche nach einem vermissten Mädchen begleitet. Powells Komposition dazu ist eine kleine sinfonische Tondichtung, die alle Nuancen des dramatischen Finales virtuos nachzeichnet. Natürlich lässt er noch mal die Hauptthemen durch den vollen Orchesterapparat wandern. Nach 6 Minuten kulminiert das Stück in einer hochdramatischen, schwermütigen Kadenz in den Bläsern. Das Leben des kleinen Mädchens steht auf dem Spiel. Und allein die Musik sorgt dafür, dass wir diesen Moment als Zuschauer ernster nehmen, als man bei einem Animationsfilm eigentlich erwarten würde. Doch natürlich geht in That Christmas alles gut aus. Die Spannung löst sich zum Happy End mit einer furiosen Variante des Hauptthemas in Wohlgefallen auf, woran sich direkt das romantisch überschäumende Boxing Day als Finale anschließt.
That Christmas ist eine großartige Weihnachtsmusik, gerade auch weil es Powell gelingt, festliche Stimmung zu erzeugen, ohne klassische Weihnachtslieder zu zitieren. Im Grunde sind das Hauptthema und der gelegentliche Einsatz von Schlittenglocken die einzige Bezugnahme auf das Fest. Damit vermeidet er abgenutzte Klischees. Natürlich klingt seine Tonsprache auch in dieser Musik sehr vertraut, orientiert sich vor allem an etablierten Standards im eigenen Werk. Doch die Virtuosität in der Orchestrierung und der Variationskunst setzt die Musik merklich von vielen früheren Kompositionen Powells ab, wobei es auch hilft, dass That Christmas als Weihnachtsfilm nicht ganz so hektisch und quirlig inszeniert ist, wie andere seiner Animationsfilme zuvor. Da sie anders als etwa Ice Age 2 oder Happy Feet nicht stilistisch zerfasert, wirkt die Musik homogener als einige vorangegangene Vertonungen des Komponisten im Genre. Doch vor allem verleiht sie der filmischen Vorlage nicht nur besonderen Charme, sondern auch viel Integrität. Und das sowohl mit als auch ohne Bilder: That Christmas ist eine tolle Filmmusik für die Feiertage.