10 Oscar-Nominierungen, zwei davon gewonnen, Wicked ist die große Musical-Extravaganz des Kinojahrgangs 2024. Alles ist hier ausschweifend, opulent und bunt. Ausstattung als auch Kostüme erstrahlen in einem üppigen Oberflächenglanz, wie man ihn in diesen Dimensionen in Hollywood schon lange nicht mehr gesehen hat. Der Film selbst, der auf einem äußerst erfolgreichen Broadway-Musical basiert, erzählt lose verknüpft die Vorgeschichte des berühmten Zauberer von Oz von 1939. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die „Böse Hexe des Westens“ zu der wurde, die sie in dem Klassiker ist. Zu Beginn von Wicked erreicht Oz zunächst aber die frohe Kunde, dass die böse Hexe endgültig besiegt wurde. Glinda, die gute Hexe des Nordens (Ariana Grande) kehrt zurück in ihre Heimat, das Volk feiert, umjubelt die strahlende Heldin. Doch es deutet sich schnell zwischen den Zeilen an, dass es hinter dieser makellosen Feierkulisse noch eine ganz andere Wahrheit gibt. Glinda ist nämlich nur vordergründig in Feststimmung, mitunter lassen sich sogar nachdenkliche Züge auf ihrem Gesicht ablesen. Als sie plötzlich von einem Mädchen gefragt wird, wie es eigentlich sein kann, dass ein Mensch so böse werden könne und ob es tatsächlich stimme, dass beide Hexen früher einmal befreundet waren, bricht die ganze Geschichte aus ihr heraus: In einer großen Rückblende erleben wir, wie sich Glinda und die „grüne“ Elphaba (Cynthia Erivo) an der Glizz-Universität kennenlernen. Und da entpuppt sich vieles anders, als man denken könnte: Die allseits beliebte Glinda tritt als selbstverliebte Diva auf, während man die intelligente Elphaba, die in einem lieblosen Elternhaus aufwuchs, aufgrund ihres ungewöhnlichen Aussehens zur gemiedenen Außenseiterin abstempelt. Weil sie aber über viel Zauber-Potential verfügt, müssen sich beide auf Geheiß der Schulleiterin ein Zimmer teilen. Wer da an Wednesday denkt, liegt nicht falsch. Abermals trifft nämlich rosafarbener Plüsch auf schwarzen Gothik-Look, hier allerdings mit grünem Oger-Einschlag versehen. Und so kommt es, wie es kommen muss: Nach anfänglichen Schwierigkeiten werden Elphaba und Glinda natürlich zu engen Freundinnen. Doch weil eine Reise zum „Zauberer von Oz“ (Jeff Goldblum) ganz anders verläuft als geplant, wird Elphaba plötzlich zur „Staatsfeindin, Nummer 1“ erklärt, womit filmisch schließlich der erste von zwei Teilen endet.
Einem Phänomen wie Wicked beizukommen, ist gar nicht so einfach. Das Musical läuft seit über zwanzig Jahren weltweit überaus erfolgreich. Und dank einer riesigen Fanbase wurde die heiß ersehnte Verfilmung fast wie selbstverständlich zu einem Riesenerfolg. Irgendetwas muss Jon M. Chu als Regisseur in seiner Adaption also richtig gemacht haben. Tatsächlich stimmt die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellerinnen: Die von allen unverstandene Elphaba eignet sich prima als Identifikationsfigur für ein junges Publikum. Und der Blick hinter die blendende Fassade Glindas, deren Liebreiz und vermeintliche Großzügigkeit in Wahrheit nur eigensüchtigen Zwecken dienen, eröffnet spannende Subtexte. Die spritzige Dynamik des ungleichen Duos, überzeugend verkörpert von Ariana Grande und Cynthia Erivo, macht viel vom Drive und Charme von Wicked aus. Und spätestens, wenn Elphaba zum vorläufigen Finale der Schwerkraft trotzt und die inoffizielle Broadway-Hymne Defying Gravity singt, reißt der Film seine Zuschauer regelrecht mit. Unterhaltsam ist Wicked also alle Mal. Doch wo viel Licht ist, fällt leider auch Schatten. So wirkt etwa das Story-Konstrukt des Musicals alles andere als überzeugend. Man könnte beispielsweise fragen, warum in einer Fantasiewelt, in der Tiere sprechen können und Vorlesungen halten, ausgerechnet eine grüne Hautfarbe auf derartige Ablehnung stoßen sollte. Wirklich schlüssig ist das nicht. Immerhin wirbt Wicked damit aber um Respekt und Toleranz für das Andersartige und arbeitet geschickt den Unterschied zwischen Schein und Sein heraus. Doch wenn man dann sieht, wie viel Raum die ausschweifenden, perfekt choreografierten Musical-Nummern einnehmen und wie sehr hier doch selbst mit den eigenen Schauwerten geprotzt wird, entsteht ein eklatanter Widerspruch: Einerseits will Wicked dazu anregen, hinter die Oberfläche klassischer Schönheitsideale zu schauen, verbringt andererseits aber bei über zweieinhalb Stunden Lauflänge sehr viel Zeit mit zuckersüßem Eyecandy, wodurch die zentrale Botschaft dann doch ziemlich verwässert wird.
Wie sehr hier die Musical-Handlung – die Bühnen-Aufführung dauert etwa drei Stunden, gedehnt wurde – beweist auch ein Blick auf die Filmmusik: Eigentlich steht und fällt ein Musical mit den Songs. Doch hier nehmen sie – dem ersten Akt der Vorlage entsprechend – nicht einmal eine Stunde ein. Der Zweiteilung entsprechend fehlen logischerweise alle Highlights des zweiten Akts. Die Originalmusik von John Powell ist mit 92 Minuten Laufzeit überraschenderweise sogar länger als der reine Musical-Anteil. Seinem Beitrag fällt deshalb nicht nur die Aufgabe zu, die Gesangseinlagen bruchlos miteinander zu verknüpfen. Er muss auch jene Szenen vertonen, die erweitert oder neu sind. Powell führt dafür zwar durchaus eigene Motive ein, doch die bleiben meist eher unscheinbar, wie das Vier-Noten-Motiv für Elphabas magische Fähigkeiten. Seine Komposition basiert vor allem auf den beliebten Liedthemen, die er subtil verarbeitet und leitmotivisch einsetzt. Daraus resultiert zwangsläufig aber ein Problem: Hört man nämlich ausschließlich die Score-Version, mangelt es an dramatischen Höhepunkten, weil die Komposition oft allein auf die beliebten Gesangseinlagen hinarbeitet. Selten einmal blüht die Musik so prachtvoll auf wie bei der Ankunftsszene in der Universität (Arrival at Shiz University) oder bei der Zugszene, in der Powell wunderschön mit dem großen Orchester das melancholische No one mourns the wicked-Lied verarbeitet (Train to Emerald City, ab Minute 1:00):
Es zeugt abermals von großer Routine, wie John Powell hier die Melodien des Musicals in seine eigene, charakteristische Klangsprache überträgt und in der funkelnden Orchestrierung unmittelbar an seine Musiken im Animations-Genre anknüpft. Hübsch etwa wie der Chor den Auftritt des Prinzen in Prince Fiyero of Winkie Country exaltiert und spöttisch begleitet, was an einen ähnlichen musikalischen Moment aus Migration erinnert. Es macht auch durchaus Spaß, in Detektivarbeit den einzelnen Motiven von Stephen Schwartz und ihrer kleinteiligen Verwendung nachzuspüren. Doch so kompetent John Powell am Werke ist, gelingt es ihm dennoch nicht, das Musical wirklich zu bereichern. Die Musik ordnet sich völlig dem lieblichen Wohlklang der Musical-Nummern unter. Trotz der professionellen Produktion und liebevollen Detailarbeit bleibt alles völlig erwartbar: das mystische Chorraunen, immer wenn es magisch wird, die eher generischen Action-Stücke, die x-fach erprobten Schablonen im Hollywood-Kino der letzten Jahrzehnte folgen. Zwischen unzähligen ähnlich gelagerten Powell-Musiken und dem unverhohlenen Fan-Service von Chus Film blieb offenbar kein Platz mehr für neue Ideen oder einen frischen kreativen Zugang. Wie der Film bietet deshalb auch John Powells klangschöne Vertonung keinerlei Überraschung. Das ist vielleicht auch gar nicht schlimm und bei einem riesigen Franchise wie Wicked in gewisser Weise sogar erwartbar. Aber das gewisse Etwas einer wirklich charismatischen Filmmusik fehlt hier leider. Umso mehr erstaunt, dass sie trotz eines derart hohen Anteils an adaptierten Themen für den Oscar nominiert wurde (während Hans Zimmers Dune 2 genau deswegen disqualifiziert wurde). Das beweist einmal mehr, wie sehr der Erfolg eines Films auch den Erfolg der zugehörigen Filmmusik befördern kann. Und wer weiß: Wenn die Fortsetzung von Wicked kommerziell ähnlich einschlägt wie der erste Teil, dann könnte John Powell 2026 vielleicht sogar den ersten Oscar seiner Karriere in den Händen halten.