Ein gutes Händchen bei der Auswahl seiner Projekte hatte John Scott noch nie. Viele der Filme, für die er in seiner langen Karriere tätig war, wurden zu Flops oder sind längst in Vergessenheit geraten. Dazu gehören ambitionierte Projekte wie Charlton Hestons Regiedebüt Antonius & Cleopatra ebenso wie die Trashperlen King Kong lebt oder der Fantasy-Streifen Einer gegen das Imperium. An der Qualität seiner Musik lag das in der Regel aber nicht. Denn wenn man sich durch das Werk des versierten Sinfonikers hört, mag man kaum glauben, dass seine Filmmusiken über Kennerkreise hinaus keine größere Bekanntheit erlangt haben. Neben den Arbeiten für die Natur-Dokumentationen von Jacques Cousteau halten aber immerhin zwei bekanntere Musiken die Erinnerung wach: zum einen das Science Fiction-Abenteuer Der letzte Countdown (1980) und die eigenwillige Tarzan-Neuverfilmung Greystoke – Die Legende von Tarzan, Herr der Affen von 1984, dem wohl bekanntestes Film mit Musik des Komponisten.
Das Drama von Hugh Hudson war seinerzeit das erste Projekt, das der Regisseur nach seinem großen Oscar-Abräumer Die Stunde des Siegers – Chariots of Fire (1981) in die Kinos brachte. An dessen Erfolg konnte er jedoch nicht anknüpfen. Greystoke war dafür auch vielleicht zu ungewöhnlich, zu sperrig angelegt. Die mutige Neuinterpretation des Tarzan-Romans von Edgar Rice Burrough stand nämlich im eklatanten Widerspruch zu den trivialen Schwarzweiß-Abenteuern (in den Jahren 1930 bis 1948) mit Johnny Weißmüller in der Hauptrolle, die das Bild des muskelbepackten Dschungel-Helden, der als kleiner Jungen nobler Herkunft nach dem Tod seiner Eltern im Dschungel von Affen großgezogen wurde, maßgeblich geprägt hatten. Im Gegensatz zu diesem geglätteten, familienfreundlichen Vorgänger, in der die Hauptfigur ein sich durch die Lianen schwingender – Jane rettender – Muskelprotz ist, wählt Hudson eine düstere, zivilisationskritische Perspektive. Christopher Lambert verkörpert in seinem Hollywood-Debüt Tarzan als nachdenklichen, gebrochenen Held, der als Naturmensch während der Kolonialzeit auf die dekadente britische Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts trifft und letztlich an ihr scheitert.
Natur und Mensch sind in Hudsons Adaption freilich gleichermaßen unbarmherzig. Dies zeigt bereits die Eröffnungsszene: Ein Schimpansenbaby wird durch die Gewalteinwirkung eines Alpha-Tieres aus den Händen der Mutter gerissen, stürzt in die Tiefe und verendet kläglich. Die archaische Brutalität steht im Film symbolhaft für die wiederkehrende Grausamkeit des Menschen, der sich der in seiner Hybris der Natur überlegen wähnt. Besonders deutlich wird das gegen Ende, wenn Forscher einen befreiten Schimpansen rücksichtslos und ohne Empathie abschießen.
Hudson setzt damit ein bemerkenswertes Zeichen gegen Kolonialismus und den zerstörerischen Umgang des Menschen mit der Natur, das aktueller kaum sein könnte. Trotz dieser wichtigen Akzente trägt die Grundidee aber nicht vollständig: Das liegt vor allem daran, dass er die märchenhafte Tarzan-Geschichte mit einem grimmigen Realismus inszeniert, der sich mit der absurden Grundidee beißt, dass ein kleines Baby von Primaten großgezogen werden könnte. Und wenn Tarzan – enttäuscht von der Zivilisation – wieder in den Dschungel zurückkehrt, dann ist Greystoke von einer verklärenden Naturromantik beseelt, die den zentralen Konflikt doch auf etwas einfältige Weise auflöst. Akzeptiert man aber die abwegige Grundprämisse, glänzt das Drama mit aufregend fotografierten Naturkulissen – gedreht wurde in Kamerun – und einer eindrucksvollen Performance des „menschlichen“ Schimpansen-Casts, der zusammen mit Christopher Lambert zuvor monatelang die Bewegungsabläufe der Tiere einstudiert hatte.
Heimlicher Star von Greystoke ist allerdings die epische Filmmusik von John Scott, zweifellos eine der stärksten Filmkompositionen der 80er-Jahre. Zu deren Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte muss man allerdings sagen: Es ist kompliziert. Eigentlich hatte Vangelis nach seinem Oscar-Erfolg für Die Stunde des Siegers auch Greystoke übernehmen sollen. Doch der Grieche litt angeblich unter einer Schreibblockade und sagte ab. John Corigliano wurde kontaktiert, lehnte aber aus Zeitgründen ebenfalls ab. Eine zweite Musik-Fassung bestand ausschließlich aus klassischen Musikstücken. Weil das Ergebnis aber weiterhin nicht zufriedenstellend ausfiel, wurde in letzter Sekunde John Scott verpflichtet. Und der hatte es nicht nur wegen des Termindrucks alles andere als leicht: Das Filmstudio, Warner Brothers, verlangte einen Score nach dem Motto „Superman im Dschungel“ während sich Hugh Hudson tragische Musik im Stil von Wagners Tristan und Isolde wünschte. Scott geriet zunehmend zwischen die Fronten dieses, zwischen Regisseur und Produzenten eskalierenden, Streits. Ein weiteres Problem bestand darin, dass lange keine endgültige Schnittfassung vorlag, angeblich existierten zwischenzeitlich fünf Stunden an Rohmaterial, sodass Scott immer wieder für Szenen Musik schrieb, die später plötzlich der Schere zum Opfer fielen.
Doch damit nicht genug: Hugh Hudson bestand darauf, einige klassische Musikstücke im Film beizubehalten, die den Vorzug vor Scotts Eigenkomposition erhielten, sodass die zum Filmstart veröffentlichte LP der eigentlichen Komposition nicht gerecht wurde. Kurioserweise gab diese auch zwei klassische Stücke als Teil der Originalmusik aus: Gardens of Greystoke ist in Wahrheit Elgars Chanson de Matin und The Dancing Lesson ein Arrangement der Sontags Polka von Eugen D’Albert. Zudem war die LP danach für ein Vierteljahrhundert nur als Bootleg verfügbar. Als La-La Land Records 2010 zum ersten Mal eine CD herausbrachte (die längst ausverkauft ist), hatte man nur Zugriff auf diese arg kurze, 33-minütige LP-Fassung, ergänzt um Ouvertüre und Abspannmusik. John Scotts eigene Pläne, seine ursprüngliche Vision als zweistündige Doppel-CD auf seinem eigenen Hauslabel JOS-Records herauszubringen, sind dagegen bis heute gescheitert. Ob also jemals substanziell mehr von Greystoke abseits des Filmes zu hören sein wird, steht in den Sternen. Immerhin kursiert auf YouTube eine halbstündige Suite, die auch Musik enthält, die nicht im fertigen Kinofilm zu hören ist. Dazu erlaubt die exzellente, 2024 erschienene Blu-ray von Plaion-Pictures eine Neubegegnung mit diesem besonderen Film der 80er-Jahre und seiner großartigen Filmmusik.
Die Musik beginnt in der Overture mit dem erhabenen Hauptthema für Tarzan selbst, eine elegische Melodie, die in den Hörnern vorgestellt wird. Es ist einer schönsten melodischen Einfälle in Scotts langer Karriere, dem man all die Strapazen der Entstehung kaum anmerkt. Doch bereits im Vorspann geht es abrupt in den Beginn von Edward Elgars erster Symphonie über, der im Film als Leitthema für die Greystoke-Dynastie fungiert. Eigentlich hatte Scott hier etwas eigenes komponiert, eng an die klassische Vorgabe angelehnt, doch es fand keine Verwendung. Das zweite große Thema ist das spätromantische Liebesthema, das ebenfalls in der Ouvertüre vorgestellt wird. Im krassen Gegensatz zu dieser wunderschönen Melodik steht die Musik für den Dschungel, die zwar motivisch die zentralen Ideen verarbeitet, gleichzeitig aber beide Seiten der Natur zeigt: die Idylle und das Unbarmherzige. Da untermalt Scott das Aufwachsen des jungen Tarzans mit einer leichtfüßigen impressionistischen Tonsprache auf den Spuren von Debussy und Ravel. Kontrastiert werden diese transparenten Naturstimmungen mit schroffen Modernismen des 20. Jahrhunderts, immer wenn die brutale Gewalt von außen in die abgeschottete Welt der Tiere hineinbricht. In diesen Szenen ahnt man, warum Hugh Hudson ursprünglich Corigliano verpflichten wollte.
Doch Scott ist ebenfalls ein Könner im Umgang mit dem Orchester, der spielend zwischen schroffer Modernität und elegischer Romantik wechselt, dabei die zentralen Themen der Musik aber stets im Auge behält und kunstvoll variiert. Ein Jammer, dass ihn Produzenten und Regisseur damals nicht mehr vertraut haben. Doch selbst in der kuriosen finalen Filmfassung bleibt Greystoke eine eindrucksvolle, charismatische Filmkomposition, in der es Scott gelingt, die Klassikstücke bruchlos zu integrieren, sodass zu keinem Zeitpunkt der Eindruck eines Flickenteppichs entsteht. Insofern vermittelt auch die von La-La Land Records veröffentlichte CD einen guten Erst-Eindruck der Musik. Dennoch kann man nur hoffen, dass Scotts ursprünglicher Vision eines Tages in vollem Glanz Gerechtigkeit widerfährt.
Interview mit John Scott: https://filmmusicjournal.ch/john-scott-zum-90-geburtstag/