Poor Things – Jerskin Fendrix: „Jenseits der Norm“

Steampunk. Albtraumhafter Expressionismus in übersättigten Farben. Ein mutiertes Paralleluniversum: Die eigenwillige Filmwelt von Poor Things gehört zu den bizarrsten, die in den vergangenen Jahren auf der Kinoleinwand zu sehen waren. In ihr wächst Bella (Oscar-prämiert: Emma Stone) auf, ein Mädchen in einem Erwachsenkörper. In Frankenstein-Manier wurde sie vom entstellten Arzt Godwin Baxter (Willem Dafoe) mit dem bezeichnenden Spitznamen „God“ zusammengeschustert: aus dem Körper einer Selbstmörderin und dem Gehirn des Kindes, das diese in sich trug. Doch Bella lernt schnell dazu. Schneller, als den Männern um sie herum, die sie als willfährige Experimentierpuppe behandeln, lieb ist. Der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos inszeniert Poor Things als surreale Selbstermächtigungsfantasie, in der die kunstvoll verzerrte Filmwelt zu einem raffinierten Spiegel patriarchaler Strukturen wird. Die Männer, auf die Bella trifft, sind hochgradig toxisch: vom Spieler und Trinker Duncan (Mark Ruffalo), der sie als Partnerin nur solange akzeptiert, wie sie sich ihm unterwirft, bis zum gewalttätigen Aristokraten, der durch sein repressives Verhalten seine Frau in den Selbstmord stürzte.

Ein so besonderer Film verlangt auch nach einer besonderen Filmmusik: Die Aufgabe fiel dem Newcomer Jerskin Fendrix zu, der ähnlich wie die Band Son Lux in Everything everywhere all at once eine ganz eigene Sensibilität in das Projekt einbringt, die wenig mit den gängigen Musikdramaturgien des Gegenwartskinos gemeinsam hat. Seine Musik kehrt das Innere Bellas nach außen: Die Instrumente werden zu ihrer Stimme. So wie die junge Frau in der Welt ihre ersten Gehversuche unternimmt und sprechen lernen muss, klingen auch sie: wacklig, zögerlich und ungestimmt. Dies beginnt bereits bei ihrem Hauptthema (Bella), ein schrittartig-tastendes Motiv, das zwar einen klaren melodischen Gedanken formuliert, bei dem Harfe und Klavier aber so schief und verzerrt klingen, als wären sie schon länger nicht gestimmt worden. Noch stärker drückt sich die anfängliche Infantilität Bellas, die sie zunächst zum Spielball der Männer macht, in dem Stück Wee aus: Das klingt völlig beabsichtigt so, als würde sich hier ein Kind zum ersten Mal an den Tasten oder Saiten der Instrumente versuchen.

Doch so wie Bella unbekümmert in die Welt hineinstolpert, dabei sich und ihre Sexualität entdeckt, nutzt Jerskin (der eigentlich Joscelin Dent-Pooley heißt), ihre Entdeckungsreise für ein sperrig-sprödes Spiel mit den Klängen der Instrumente: oftmals schrill, dissonant oder schroff. Da wirkt es dann beinahe schon zufällig, wenn vereinzelt dann doch plötzlich ein wiedererkennbares Motiv auftaucht. Je länger die Handlung aber fortschreitet – Bella unternimmt zusammen mit Duncan eine Weltreise, die sie von London über Lissabon, Alexandria bis nach Paris führt – umso stärker wird ihre individuelle Stimme. Und das drückt sich auch in der Musik aus, die spätestens, wenn in I Just Hope She’s Alright euphorische Vokalisen zu funkelnden elektronischen Miniaturen erklingen, Bellas Sturm-und-Drang-Phase einläutet. Diese Entwicklung zeigt sich auch in den beiden schrägen portugiesischen Tänzen (Portuguese Dance I/II): Die Besetzung wird größer, die Musik expressiver, spielerischer und lustvoller. Bemerkenswert ist, dass das Dissonant-Sperrige dabei nie gänzlich verschwindet, Jerskins Musik zu keinem Zeitpunkt in konventionelle Ausdrucksformen übergeht. Das hat natürlich mit Bella zu tun, die sich, als das von Männern und männlichen Projektionen erschaffene Wesen, nie natürlich entfalten konnte und deshalb ein Produkt und Spiegel der kaputten Welt um sie herum bleiben muss. In keinem Stück der Filmmusik drückt sich das stärker aus als in Alexandria, in dem die hohen Lagen der Streicher ihr Entsetzen, angesichts der Konfrontation mit Armut und Kinderarbeit, in lähmend schrille Töne fassen.

Wenn am Ende des Filmes die empowerte Bella ihren eigenen selbstbestimmten Weg gefunden hat, feiert ein furioses Tutti diesen Triumph: Streicher, Orgel und Blechbläser kulminieren zu einem furiosen Fanal. Es ist eine neue, bislang unerhörten Stimme, die sich aus den vielen vorher gehörten Stimmen und Kontexten zusammensetzt. Die Geschichte der ungewöhnlichen Heldin kommt zum Ende. Es ist gleichzeitig, der Schlusspunkt einer schillernden Musikdramaturgie, mit der Fendrix der eigenwilligen Inszenierung eine nicht weniger eigenwillige und äußerst charismatische Komposition gegenüberstellt. Im Film funktioniert das als verstörender Verfremdungseffekt grandios. Das autonome Hören bleibt dagegen eine ziemliche Herausforderung: Die Vertonung fasziniert zwar auch abseits der Bilder mit ihren sehr speziellen Klangwirkungen. Doch das avantgardistische Gemisch aus markanten Motiven, banal-kindlichem und schaurig-schiefen Tönen ist schon ein äußerst abseitiges, eng mit dem Film verzahntes, Hörvergnügen. Entsprechend zollte die Filmkritik der Filmmusik zum Kinostart zwar viel Respekt. Wohlverdiente Oscar- und Golden-Globe-Nominierungen folgten. Als eigenständige Komposition spielte sie danach in der Rezeption aber im Grunde keine große Rolle mehr. Das überrascht nicht. Denn so mutig und extravagant die Filmmusik auch ist: Ohne Bildbezug ist sie nur in kleinen Dosen erträglich.

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