In der Kinogeschichte gibt es nur wenige Fälle, in denen ein Film mit unterschiedlichen Musiken in Europa und in den USA veröffentlicht wurde. Das prominenteste Beispiel dürfte Ridley Scotts Fantasymärchen Legend mit Tom Cruise sein, das in Europa mit rein elektronischer Musik von Tangerine Dream und in den Staaten mit einer überwiegend sinfonischen Komposition von Jerry Goldsmith veröffentlicht wurde. Ein weiterer Fall, bei dem die Vertonungen stilistisch freilich aber nicht ganz so weit auseinander liegen, ist Night and the City von 1950, der hierzulande unter dem unsinnigen Titel Die Ratte von Soho in die Kinos kam. Für die Produktion, die mit einem rein britischen Cast in London gedreht wurde und die auf einem britischen Roman basiert, beauftragte man zunächst Benjamin Frankel, die Musik zu schreiben. Weil das Projekt aber mit amerikanischen Geldern finanziert wurde, entstand parallel in den USA eine zweite Vertonung. Die stammt von niemand Geringerem als Franz Waxman, der kurz zuvor für Sunset Boulevard den Oscar erhalten hatte. Ähnlich wie bei Legend gibt es mittlerweile die komfortable Situation, dass beide Filmfassungen verfügbar sind. Dazu hat das US-Label Screen Archives Entertainment 2002 Frankel- und Waxman-Musik zusammen auf einer Doppel-CD veröffentlicht. Einem Vergleich und Nachspüren der Unterschiede steht seitdem also nichts mehr im Wege.
Der Film von Jules Dassin (Rififi) ist die bemerkenswerte Charakterstudie des windigen Aufschneiders Harry Fabian (der junge Richard Widmark), der in seiner Selbstüberschätzung glaubt, es mit der Unterwelt Londons aufnehmen und das Boxgeschäft in der Metropole kontrollieren zu können. Verblendet von der Aussicht auf Ruhm und Reichtum übersieht er dabei das offensichtliche Glück, das daheim in Form der ihn liebenden Mary (Gene Tierney) wartet. Symbolisch erscheint gleich die Eröffnungsszene, in der Fabian von Unbekannten verfolgt wird, denen er offenbar Geld schuldet. Das Motiv von Jäger und Gejagtem, von Bewegung in einer rastlosen Stadt bestimmt die Handlung von Dassins Films. Es ist ein Macht- und Ränkespiel, in dem sich Fabian, der schmierige Nachtclubbesitzer Nosseros und der verschlagene Wrestling-Promoter Kristo in ihren Lügen, Charaden und Betrügereien moralisch nur wenig voneinander unterscheiden. Allerdings besitzt Harry Fabian als naiv-dreister Emporkömmling in diesem Machtgefüge zwangsläufig die schwächsten Karten.
Bemerkenswert sind die Unterschiede in beiden Filmmusiken, die einzelne Szenen eine vollkommen unterschiedliche Tonalität verleihen. Der Main Title in Benjamin Frankels Musik, der mit fatalistischer Dringlichkeit den Puls der Stadt aufnimmt und das spätere Schicksal des Protagonisten vorausahnt, mag zunächst täuschen. Denn Frankel bespielt die Szenerie danach eher leichtfüßig, weniger düster, was auch mit kleinen Änderungen in der britischen Schnittfassung zu tun hat. Die romantische Beziehung zu Mary taucht er in einen lyrischen Streicherwohlklang (Mary’s Apartment, Mary Gives Money To Harry), der das Toxische der Beziehung komplett ausblendet und allein die Fürsorglichkeit der jungen Frau hervorzuheben scheint. Abgesehen einiger weniger Spannungsstücke, setzt er viel stärker als Waxman im Verlauf auf Source-Musik – Jazziges und zeitgenössische Tanzstücke (z.B. Restaurant Mambo) in den Klubszenen. Für die Konfrontation von Nosseros mit seiner frustrierten Ehefrau Helen erklingt als ironische Brechung sogar das Spiel eines Akkordeons. Die innewohnende Tragik und Dramatik vieler Szenen beachtet er nicht. Daraus entsteht eine wechselhafte, wenig kohärente Musiksprache, die trotz reizvoller Momente rein illustrativ und bildbezogen bleibt, und das Potenzial des Films kaum ausschöpft.
Ganz im Gegensatz dazu Waxmans Beitrag: Dieser interpretiert den Stoff ganz im Sinne des Film Noir und stellt dem Film eine kraftvolle orchestrale Komposition beiseite. Die wirkt aus heutiger Sicht zwingender, war damals aber natürlich auch den kommerziellen Notwendigkeiten des US-amerikanischen Marktes geschuldet, wo ein kraftvoller sinfonischer Ansatz längst zum Standard für eine Produktion wie diese gehörte. Auch hier gibt es Source-Musik, an den Szenen im Londoner Nachtleben kommt schließlich auch er nicht vorbei. Doch davon abgesehen ist Waxmans Beitrag eine düster-bedrohliche Tonschöpfung, die Harry mit Blechbläsern, frenetisch aufspielenden Streichern und Schlagwerk durch die Straßen der Stadt hetzt. Wenn es einen Schwachpunkt gibt, dann der, dass die Themen und Motive nach dem schillernden Main Title eher kurzatmig bleiben. Vielleicht auch ein Fingerzeig dafür, dass die Figuren in Night and the City kein echtes Profil besitzen. Sie sind entweder egomanisch oder naiv, und manchmal sogar beides zugleich. Das gilt auch für die liebesblinde Mary, für die Waxman ebenfalls ein romantisches Thema komponiert hat. Doch steht diese Melodie in einem so scharfen Kontrast zum Tonfall der restlichen Musik, dass es ihre Naivität und die verlorene Position, in der sie sich befindet, besonders hervorzuheben scheint.
So intensiv und packend Waxmans Beitrag auch ist, gehört er kaum zu den besten Filmmusiken des Komponisten. Das liegt nicht nur an den vielen, von Lionel Newman arrangierten, Source-Musik-Stücken, die, ähnlich wie bei Benjamin Frankel, die Wirkung der orchestralen Stücke verwässern. Auch bleibt die Musik über weite Strecken doch sehr bildbezogen. Dennoch wirkt sie deutlich charismatischer als die keinesfalls schlechte, aber doch für den Ernst der Handlung zu leichtgewichtig anmutende Frankel-Vertonung. Waxman denkt schlichtweg filmischer und verstärkt die Fatalität des eindrucksvollen Films auf überzeugendere Weise. Die beste Repräsentation von Waxmans Arbeit findet man indes auf Volume 3 des „Franz Waxman – Legends of Hollywood“-Samplers. Die konzertante Verarbeitung Nightride for Orchestra fasst die Essenz von Waxmans Arbeit zu einer großartigen achtminütigen Suite zusammen. Dagegen besteht der besondere Reiz der Doppel-CD von Screen Archives Entertainment neben dem liebevoll gestalteten Booklet primär darin, beide Musik- und Filmfassungen gegenüberstellen und miteinander vergleichen zu können. Denn wann erhält man sonst schon einmal eine derartige Gelegenheit?