Everything Everywhere All at Once – Son Lux: „Alles auf einmal“

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Daniel Kwan und Daniel Scheinert wollten für ihren wilden Genrebastard Everything Everywhere All at Once ganz bewusst keine typische Hollywood-Filmmusik haben und engagierten deshalb die Independant-Band Son Lux um den Sänger und Multiinstrumentalisten Ryan Lott. Tatsächlich klingt das, was das Trio für den großen Oscar-Abräumer des Jahrgangs 2022 geschaffen hat, auf den ersten Blick nur sehr bedingt nach Traumfabrik. Die knapp zweistündige Filmmusik entführt den Hörer auf einen akustischen Sound-Trip, der so wechselhaft und überbordend ist wie der Film selbst: Everything Everywhere All at Once verpackt ein Familiendrama als irrwitziges Spiel um das „Multiversum“, in dem die Mitglieder der Familie Wang (grandios: Michelle Yeoh, Ke Huy Quan und Stephanie Hsu) scheinbar nach Belieben zwischen absurden Paralleluniversen hin- und herspringen. Entsprechend die Musik: Da stehen verspielte elektronische Klangtüfteleien neben breiten Synthesizer-Sounds, prallt Orchestrales auf Ambient-Klänge, begleitet ein Feuerwerk asiatischer Perkussion-Instrumente die wahnwitzigen Kampfszenen. Es geht wirklich fast alles: poppiger Gesang zur Opernszene, schroff-kreischende Chor-Einsätze zu den Kapitel-Einblendungen, Violinsoli und alle Arten skurriler Klänge, deren Ursprung oft nur erahnt werden kann. So schnell wie der Schnitt die alternativen Welten aufeinanderprallen lässt, wechseln Stile und Stimmungen. Alles wird mit allem kombiniert – „Everything Everywhere All at Once“ – der Titel ist nicht nur filmisch, sondern auch auf der Tonspur Programm. Drei Jahre haben Son Lux angeblich an der Musik getüftelt und diese Detailverliebtheit hört man dem Resultat an. Kein Musikstück gleicht dem anderen. Eine Vielzahl von Instrumenten wurden für die Arbeit gesampelt, dazu gehören unter anderem eine Violine, die zweckentfremdet mit anderen Gegenständen gespielt wurde, Gongs, Paigu- und extra rekonstruierte Maya-Trommeln. Nicht verwunderlich also, dass der Großteil der Arbeit nicht so sehr in den Aufnahme-Sessions, sondern vor allem in der Nachbearbeitung am Computer bestand.

Das Ergebnis sind fast zwei Stunden Wall-to-Wall-Filmmusik, die unter einigen Fans längst Kultstatus erlangt hat. Doch wie viel bleibt von dieser Vielfalt am Ende hängen? Das aus vier Noten bestehende Familienthema, eine im Grunde einfache Klaviermelodie (wunderschön in What are you Thinking About? zu hören) ist in vielen Variationen und Varianten immer wieder präsent. Doch das Alleinstellungsmerkmal des Filmes, in rasanter Frequenz die Welten zu wechseln, erweist sich für die Musik als Fluch und Segen zugleich. Denn die daraus resultierende Kurzatmigkeit gestattet es den Komponisten zwar, sich über 49 Musikstücke – inklusive Songs – kreativ kräftig auszutoben. Andererseits bietet sich ihnen aber durch das abrupte Springen durch die Paralleluniversen nur wenig Raum, um einzelne Ideen zu vertiefen oder zu entwickeln. So steht und fällt die Komposition mit der Qualität ihrer Einzelstücke. Und die ist dann doch sehr unterschiedlich: Es gibt durchaus Highlights wie die reizvolle asiatische Harmonik zu vertrackten rhythmischen Spielereien in Very Busy oder die entrückten Vokalisen über den nachdenklich-ätherischen Synthie-Spielereien bei In Another Life. Toll auch, wie zur vordergründigen Klaviermelodie zu Beginn von Come Recover im Hintergrund Trommeln und Synth-Effekte bereits das Potenzial andeuten, dass die Handlung jederzeit wieder in eine andere Realität springen könnte. Doch vielfach verliert sich die Musik auch in bildungsbezogenen elektronischen Spielereien und dröhnenden Synthesizer-Effekten. Richtig abgedroschen mutet es an, wenn Son Lux, wie unzählige Kinofilme zuvor, einmal mehr Debussys Clair de Lune bemühen. Das impressionistische Klavierstück verfehlt zwar auch hier nicht seine Wirkung, ist aber eine ziemlich abgedroschene Wahl, wenn man bedenkt, wie sehr sich Everything Everywhere All at Once ansonsten bemüht, möglichst ausgefallene Lösungen zu finden.

Doch der wild-fabulierende Eklektizismus, mit seinen zahllosen Querreferenzen und Verweisen, ist ein Grundprinzip des Filmes. So wie das Multiversum für die chinesische Einwandererfamilie Wang für die ausufernde, kaum mehr fassbare Komplexität der Welt steht und die einzelnen Universen alternative Lebensentwürfe repräsentieren, bildet die Musik in ihren Stil- und Kontextwechseln, im Schrillen und Lauten, das ständige Rauschen einer rastlosen Zeit ab. Wenn die Musik dann zwischen Lärm und Hektik, mittels einer der Klaviermelodien oder eben Clair de Lune zu intimen Ruhepunkten findet, ist das deshalb so berührend – weil es in allem Trubel eine Rückbesinnung auf das Wesentliche vollzieht. Und das verläuft in Everything Everywhere All at Once anhand zweier Achsen: der zerrütteten Beziehung zwischen den Eheleuten und dem schwierigen Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, deren Alter Ego „Jobu Tupaki“ das Multiversum als Bösewicht heimsucht. Natürlich erstaunt es, wie viel – zugegeben fulminant inszeniertes – Brimborium Kwan und Scheinert auffahren, um zwei im Grunde doch einfache Familienkonflikte zu erzählen. Und doch haben sie bei vielen Zuschauern damit einen besonderen Nerv getroffen, weil sie es auf kongeniale Art und Weise verstehen, eine sympathische Metapher für die Verlorenheit in unserer Zeit zu finden und dazu eine versöhnliche Auflösung anzubieten. Entsprechend dieser Konzeption ist der Beitrag von Son Lux in seiner konzeptionellen Bildbezogenheit kaum greifbar und erst recht nicht mit den Kriterien klassischer Kompositionslehre zu fassen. Ist das Kult, visionär und große Kunst oder doch eher banal, chaotisch und ziemlich überschätzt? Diese Frage lässt sich wohl nur mit dem Filmtitel beantworten: „Alles überall auf einmal“. Den Rest mag die Zeit zeigen.

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