A Haunting in Venice – Hildur Guðnadóttir: „Wenn sich die Geister nicht bewegen“

Eine Szene früh im Film: Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh) erreicht mit der Gondel durch einen undurchdringlichen Nebel ein venezianisches Palazzo. Doch die Musik der Isländerin Hildur Guðnadóttir mag die unheilvolle Stimmung und den Anblick des altehrwürdigen Gemäuers nicht in Töne fassen: Sie begleitet die Szene ohne Glanz, ohne abgründige Opulenz – lediglich der fahle Klang einer Solo-Klarinette ist zu hören (Gondolas). Tatsächlich hängt qualvolle Trauer über diesem verwunschenen Ort. Die verrückt gewordene Tochter der Hausherrin hat sich vor einiger Zeit von einem Balkon in den Tod gestürzt. Dazu liegt angeblich ein Fluch über dem Palazzo: Einst war es ein Waisenhaus, indem während der Pest unzählige Kinder den qualvollen Tod fanden, die nun als Geister auf ihre Erlösung warten. Die Seance der mysteriösen Joyce Reynolds (Michelle Yeoh) soll den Kontakt zur Verstorbenen herstellen, um die Todesumstände der Tochter zu klären. Doch der ebenfalls eingeladene Poirot ist seiner Natur nach skeptisch, mag nicht an das Übersinnliche glauben. Seine Vernunft wird bei diesem Fall allerdings auf eine harte Probe gestellt, denn unerklärliche Phänomene häufen sich und schnell wird klar, dass der Selbstmord einer vermeintlich Verrückten keiner war.

Kenneth Branagh gibt sich in seiner dritten Agatha Christie-Verfilmung (nach Mord im Orientexpress und Tod auf dem Nil) redliche Mühe, der im Grunde einfachen Kriminalgeschichte inszenatorisch viel abzugewinnen und beschauliches Kostümkino zu vermeiden. Das Nachkriegs-Venedig Ende der 40er-Jahre setzt er ungewöhnlich in Szene: Eigenwillige Kamera-Perspektiven wie verzerrte Weitwinkel-Aufnahmen bürsten jegliche Postkarten-Klischees auf links. Der nüchterne Blick auf den Tourismus-Hot-Spot Venedig erinnert bisweilen auch an das italienische Giallo-Kino der 70er-Jahre, in denen behandschuhte Serienmörder ihr Unwesen trieben. Auch in A Haunting in Venice sind mehrere Morde zu beklagen, die Poirot am Ende aber in gewohnter Manier auflöst: Abermals versammelt er alle Verdächtigen in einem Raum, um vor ihren Augen den Fall aufzulösen. Natürlich gibt das die literarische Vorgabe so vor. Aber das klassische Finale enttäuscht nach dem experimentellen Beginn doch ein wenig, weil Branaghs Film nach allem Budenzauber doch sehr konventionell auf die Zielgerade seiner exaltierten Schauergeschichte einbiegt.

Guðnadóttir interessiert das freilich wenig. Ihre kammermusikalische Filmmusik – zum Teil gelobt, zum Teil vehement gescholten – widersetzt sich allen Genre-Konventionen, indem sie den Gruselfaktor auf ein avantgardistisch-atmosphärisches Skelett reduziert. Und das war offensichtlich genauso beabsichtigt. Branagh wollte die Stille so lange wie möglich wirken lassen, verlangte daher nach einem ökonomischen Musikeinsatz. Der Beitrag der Oscar-Preisträgerin verharrt entsprechend oft kaum wahrnehmbar im Hintergrund. Eigenen Aussagen zufolge hat sie sich an der klassischen Moderne der Vor- und Nachkriegszeit orientiert, als Komponisten in ihren Werken das Konzept von Melodie und was Musik eigentlich ist, hinterfragten. Ihrer Ansicht nach passte das gut zu der Figur Poirots, der tiefgreifenden Verunsicherung, die ihn kennzeichnet, und seinem Kampf mit den Geistern der Vergangenheit. In den zehn sehr unterschiedlichen kammermusikalischen Stücken der Filmmusik, die mehr an ein Konzeptalbum erinnern, orientiert sich die Komponistin deshalb an Olivier Messiaen, insbesondere sein Quartett für das Ende der Zeit von 1941 ist immer wieder als Bezugspunkt zu erkennen.

Dabei beweist Hildur Guðnadóttir mit ihrer spröde-sperrigen Geistermusik durchaus ein Händchen für die besondere Stimmung des Filmes. Das beste, allerdings auch zugänglichste Stück der Musik, Haunt, vermittelt mit seinem durchgehenden Tutti der Streicher effektvoll ein beklemmendes Gefühl lähmender Isolation. Für die Schockmomente verwendet die Komponistin elektronische Soundeffekte, gar nicht so unähnlich denen aus Chernobyl. Mit diesen Mitteln erfüllt Guðnadóttir gewissermaßen die Mindestanforderung an die Vertonung eines Gruselfilms, nämlich, dass sie eine beunruhigende Grundatmosphäre herstellt. Darüber hinaus bleibt ihre Musik aber vieles schuldig. Der eher etwas statischen Inszenierung fehlt ein emotionales Zentrum, dass dem Zuschauer helfen könnte, eine Verbindung zu den tragischen Figuren herzustellen. Diese Lücke kann Guðnadóttir mit ihrer Arbeit nicht schließen. Wenn sich in der zweiten Hälfte die Ereignisse zuspitzen, Poirot dem Wahnsinn anheimzufallen droht und sich die ganze Tragik der Ereignisse offenbart – findet sie dafür keine Entsprechung, weil ihre Komposition die Dramaturgie der Handlung überhaupt nicht beachtet. Völlig misslungen ist etwa der musikalische Kontrapunkt in Pipes für eine Szene, in der sich zwei Verdächtige prügeln. Diese filmische Verdichtung der Ereignisse begleitet ein spöttisch anmutenden Spiel der Klarinetten, das den Zuschauer mit seiner ironischen Brechung merklich aus dem Film reißt. Und wenn zu Poirots Auflösung schließlich das acht-minütige Confession zu hören ist, dann nimmt das spröde-monotone Spiel von Cello und Violine, das gut in ein avantgardistisches Konzertwerk gepasst hätte, diesem dramatischen Höhepunkt viel von seiner möglichen Wirkung.

Zwangsläufig stellt sich damit die Frage, ob ein derart abstraktes Musikkonzept bei einem klassischen Krimi-Topos wirklich trägt. So ambitioniert und faszinierend es gedacht ist, Agatha Christies Romanvorlage auf der Tonspur mit Verweisen auf die musikalische Moderne eine neue Perspektive abzugewinnen, verläuft dieser Ansatz doch in die Leere, weil es zwischen den Einzelstücken kaum greifbare Verbindungspunkte gibt. Die statisch anmutende Musik bremst den Film stattdessen merklich in seiner Dynamik aus. Das ist auch deshalb schade, als dass eine kammermusikalische Filmmusik eine absolute Ausnahmeerscheinung im aktuellen Hollywood-Kino darstellt. Der Mut, für einen Film wie diesen auf den großen Orchesterapparat, den kreischenden Chor und das obligatorische Wiegenlied zu verzichten, verdient natürlich Respekt. Insofern ist A Haunting in Venice auch alles andere als eine austauschbare oder erwartbare Filmmusik von der Stange. Besonders gut funktioniert sie aber dennoch nicht – weder mit noch ohne filmischen Kontext. Im Vergleich zu den Vorbildern zieht die Komposition sowieso den Kürzeren. Insbesondere das Quartett für das Ende der Zeit bleibt das eindeutig faszinierendere, um Welten eigenständigere Werk. Wie man es deshalb auch dreht und wendet: Film und Musik gehen in A Haunting in Venice nicht so recht zusammen.

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