Chernobyl – Hildur Guðnadóttir: „Wie klingt eine Katastrophe?“

Hildur Guðnadóttirs Karriere führte im Jahr 2019 steil nach oben. Bei jeder Preisverleihung, bei der eine Filmmusik-Auszeichnung vergeben wurde, mischte die Isländerin vorn mit. Für den düsteren Batman-Ableger Joker erhielt sie Golden Globe, BAFTA und Oscar und die fünfteilige von HBO/Sky produzierte Miniserie Chernobyl, die den fatalen Reaktorunfall vom 25. April 1986 rekonstruiert, gewann sie Grammy und Emmy. Seit diesem internationalen Durchbruch ist die junge Komponistin in aller Munde, Speerspitze einer neuen Filmmusik-Avantgarde, deren atmosphärisch geprägte Arbeiten sich merklich vom klassischen Hollywood-Sound mit ihren oft narrativ orientierten Musik-Dramaturgien unterscheiden. Vor allem ihre preisgekrönte Chernobyl-Vertonung ist geradezu ein Paradebeispiel für konsequentes Mood-Setting, wie es zuletzt auch Volker Bertelmann mit Im Westen Nichts Neues den Oscar einbrachte: Hinter dem bemerkenswerten Sound Design steckt allerdings viel Aufwand und Recherche. Die Komponistin reiste selbst an den Drehort, in das stillgelegte Kernkraftwerk Ignalina, um dort Klänge als Basis für ihre Arbeit aufzunehmen und diese später in ihrem Berliner Studio zu verarbeiten. „Faktenbasierte Musik“ nannte Guðnadóttir das zum Serienstart in einem Interview.

Das passt zum dokumentarischen Anspruch der Serie, obwohl sich diese einige Freiheiten gegenüber der belegten Historie nimmt, die aber meist erzähl-ökonomischen Gründen geschuldet sind. Auch wenn ihr zuweilen die Spannungsdramaturgie eines Katastrophenfilms vorgeworfen wurde, verweigert sie sich allzu offensichtlichen Hollywood-Stereotypen. Zwar gibt es Identifikationsfiguren, denen die Handlung folgt wie die engagierte Wissenschaftlerin Ulana Khomyuk (Emily Watson), die versucht, die Ursache des Unglücks zu ergründen. Doch die Reaktor-Katastrophe ist zu fatal, die Konsequenzen für Menschen und Umwelt zu folgenschwer, als dass ein Happy End oder ein Mitfiebern mit dem Heldentum einzelner Protagonisten denkbar wären. Die eher statisch organisierte Filmmusik Guðnadóttirs passt mit ihren sperrig-dröhnenden, oftmals geräuschartigen Klangschichten perfekt zu dem gespenstischen Endzeitszenario, das sich innerhalb der Serie durch akribisch rekonstruierte Schauplätze und beklemmende Bilder vermittelt. Die zerstörerische Kraft der unsichtbaren Strahlung wird von der Musik in Töne gefasst – durch fahle Klangflächen, kühle metallische Sounds. Da rattert der akustische Geigerzähler mahnend. Oft ist gar nicht klar, ob die Quelle der Klänge im oder außerhalb des Bildes liegt. Dazu taucht wie eine Geistererscheinung ein Chor (Vichnaya Pamyat) oder die verfremdete, auf mehreren Spuren überlagerte Stimme der Komponistin (Líður) aus den Trümmern auf, um ein Requiem auf die ungezählten, von offizieller Seite meist unter den Teppich gekehrten Opfer des Unglücks zu singen.

Ist das nun ein geniales Vertonungskonzept oder doch viel Lärm um des Kaisers neue Kleider? Neben viel Beifall für die avantgardistische Musik gab es nämlich auch Kritik: Das Fehlen von markanten Themen und Motiven wurde ebenso bemängelt wie die fehlende narrative Struktur oder die emotionale Kälte. Dieser Meinung kann man sein, sie erscheint aber verfehlt: Die Singularität der beispiellosen Katastrophe, bei der es keine Helden, sondern nur Opfer gibt, verlangt zwangsläufig nach einer Vertonung, die die historische Bedeutung und den bis heute weitreichenden Folgen in eine adäquate musikalische Form überträgt. Eine konventionelle Musikstruktur hätte nur dazu beigetragen, die Tragweite dieser beispiellosen Tragödie zu verwässern oder schlimmer noch, die Serie in eine Reihe mit anderen Katastrophenfilmen zu stellen. Ob man Chernobyl jedoch auch abseits der Bilder hören kann und mag, ist in diesem Kontext daher von sekundärer Bedeutung. Rein musikalisch gesehen ist bei Weitem nicht jedes Stück sperrig. Gerade die genannten Vichnaya Pamyat und Líður funktionieren durchaus auch autonom. Kann und wird Hildur Guðnadóttir mit Chernobyl in die Filmmusik-Geschichte eingehen? Das bleibt natürlich abzuwarten. Eine charismatische und im Kontext der Bilder äußerst effektvolle Vertonung ist ihr aber ohne jeden Zweifel gelungen.

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