Ballad of a Small Player – Volker Bertelmann: “Die Musik der hungrigen Geister”

In Macau ist er ein “Gweilo” – ein fremder Geist, in Unsichtbarkeit gehüllt, wie Lord Doyle (Colin Farrell) über sich selbst sagt. Als notorischer Spieler hat er beim Baccara sein gesamtes Geld verzockt. Alles, was ihm bleibt, sind die feinen Anzüge und seine gelben Handschuhe, die ihm eigentlich Glück bringen sollen. Doch genau dieses Glück bleibt aus, auch wenn es nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit eigentlich bald wiederkommen müsste, wie er glaubt. Doyles Situation verschärft sich immer mehr. Nicht nur, dass die Angestellten im Luxushotel langsam anfangen zu zweifeln, ob ihr extravaganter Gast die sich auftürmende Rechnung wirklich wird begleichen können. Auch die Privatermittlerin Blithe (Tilda Swinton) ist dem Lebemann hartnäckig auf den Fersen. Denn Doyle, der in Wahrheit gar kein Lord ist, hat eine ganze Reihe von Schuldnern, die ihr Geld wiedersehen wollen, und ist genau darum unter falschem Namen in die Sonderverwaltungszone an der Südküste Chinas geflüchtet. Im Casino trifft er eines Abends auf die mysteriöse Dao Ming (Fala Chen), die dort als Kredithai arbeitet. Als sich einer ihrer Kunden verzweifelt in den Tod stürzt, nimmt sie den abgebrannten Doyle aus Schuldgefühlen mit zu sich nach Hause. Es ist die Nacht des “Festivals der hungrigen Geister”, in der sich dem Aberglauben nach die Tore zur Unterwelt öffnen und die Toten den Lebenden begegnen.

Am nächsten Morgen ist Dao Ming verschwunden. Und ab diesem Moment taucht auch Ballad of a Small Player immer mehr ab in eine Art filmischer Zwischenwelt zwischen Leben und Tod, in der nie ganz klar ist, ob Doyle alles – was wir sehen – wirklich erlebt oder nur geträumt ist. Edward Berger inszeniert das als rauschhaften Exzess, durch den sich Colin Farrell aufgequollen, mit Schweißperlen auf der Stirn, in zunehmender Panik bewegt. Die furiosen Kamerafahrten von James Friend fangen perfekt das funkelnde Glitzern dieser mondänen Scheinwelt ein, die das echte Leben und die sich dahinter verbergenden Abgründe hinter makellosen Fassaden und eleganten Interieurs verbirgt. Die Farben leuchten in kräftigem Grün oder Rot. Alles ist überstrahlt und überreizt, und Colin Farrell als kaputter Loser mittendrin. Schließlich kommt er doch zu viel Geld und sein Blatt wendet sich ein letztes Mal. Das Comeback des Spielsüchtigen wird zu einem orgiastischen Albtraum – ein ekstatischer Triumph mit Hummer, Kaviar und Champus – bis zum Erbrechen. Doch ist für ihn wirklich alles zu spät oder besteht noch Hoffnung?

Nach zwei riesigen Hollywood-Erfolgen (All quiet on the Western front, Conclave) wurde der deutsche Regisseur mit seiner Netflix-Produktion Ballad of a Small Player wieder geerdet. Denn das Spielerdrama erhielt äußerst durchwachsene Kritiken, wurde als zu wenig tiefgründig empfunden und dafür gescholten, dass sich hinter den offensichtlichen Oberflächenreizen angeblich nicht viel verberge. Ganz nachvollziehbar ist das allerdings nicht. Denn filmisch ist auch diese Berger-Produktion eine Wucht: Colin Farrell spielt herausragend, die Kamerarbeit ist virtuos und das clevere Drehbuch (basierend auf dem gleichnamigen Roman von Lawrence Osborne) spielt äußerst raffiniert mit der Wahrnehmung des Zuschauers, sodass bis zum Schluss offenbleibt, was real und was Traum ist. Die Casinos von Macau werden hier zu einer surrealen Scheinwelt am Übergang von Tod zu Leben. Doch der Film gestattet auch einen Blick in ein mögliches anderes Leben: nicht nur in der etwas spießig wirkenden Detektivin, sondern auch, wenn Doyle mit Dao Ming in ihre Wohnung geht oder nach seinem Herzinfarkt auf ihrem schwimmenden Zuhause erwacht. Durch die Begegnung mit der jungen Frau eröffnet sich für ihn der Strohhalm aus der Sucht heraus. Ballad of a Small Player erweist sich als genauso schillerndes, wie faszinierendes Mysterien-Spiel mit vielen Subtexten, Metaphern und Lesarten.

Die Filmmusik von Volker Bertelmann, der hier zum bereits sechsten Mal mit Edward Berger zusammenarbeitet, agiert als brillanter Taktgeber zu dieser bitterbösen Reise in die Spieler-Hölle. Für die opulente Ouvertüre (The City of Dreams) hatte der deutsche Komponist die Vorgabe, sich am Schlusssatz aus Dvořáks neunter Symphonie zu orientieren. Schnell betreten aber wieder die rhythmischen Streicher, wie man sie bereits aus A House of Dynamite kennt, die Bühne, wieder lautstark akzentuiert und mitunter von den Bläsern geschickt verstärkt. Doch natürlich – das kennt man von Bertelmann aus seinen letzten Musiken – werden alle Sounds wieder dekonstruiert. Mehre Sessions lang ließ Bertelmann nach eigenen Angaben Blech- und Holzbläser experimentelle Sounds einspielen, die viel von der nervös-flirrenden, manchmal unerbittlich tackernden Klanglandschaft der Musik ausmachen.

Vor allem die Einsätze des tiefen Blechs sind faszinierend. Während sie zu Beginn noch den funkelnden Glanz der Casinos einfangen, bekommt das Spiel im Verlauf durch Verfremdungseffekte Risse, wirkt verzerrt-dissonant – genauso wie Doyle zunehmend den Bezug zur Realität verliert. Die fahle Euphorie der Fanfaren ist eben auch ein großes Stück Selbsttäuschung. Und je länger der Film andauert, desto stärker zeichnet auch die Musik den obsessiven Wahn und die bröckelnde Fassade des ausgebrannten Spielers nach. Dies kulminiert schließlich in Take Play Win Part 1/2, in denen nur noch die Rhythmik im Vordergrund steht, Symbol der wahnsinnigen Mechanik eines sich völlig verselbständigenden Glücksspiel-Exzesses. Im scharfen Kontrast dazu stehen die Szenen, in denen die Welt außerhalb des Casinos hinter den edlen Fassaden sichtbar wird. Besonders enigmatisch wirkt Bertelmanns Komposition, wenn Doyle bei Dao Ming für kurze Momente zur Ruhe kommt. Da verleihen die meditativen Gong-Schläge in Stücken wie Hungry Ghost den geisterhaften Sounds eine faszinierende Note.

Dass Ballad of a Small Player eine so prägnante Filmkomposition ist, liegt vor allem auch am starken Hauptthema (eingeführt in The City of Dreams ab 0:39 Min.), das beinahe jedes Musikstück durchdringt und raffiniert ein Gefühl von Dringlichkeit und Getriebenheit vermittelt, ohne heroisch zu wirken. Letztendlich ist Lord Doyle bzw. Brendan Reilly, wie er in Wirklichkeit heißt, ein Verdammter – kein schlechter Mensch, nur einer, der aus Scham ein paar Mal zu viel die falsche Abzweigung genommen hat. Zugleich, und auch das ist eine Ebene von Bergers Film, stellt sich die Frage: Wäre das Leben der biederen und gesetztestreuen Schnüfflerin Blithe tatsächlich das Lebenswertere? Ballad of a Small Player beantwortet diese Frage mit einer großartigen Pointe: Über dem Abspann sehen wir sie und Doyle zu Technobeats und Bläsern miteinander tanzen. Das Beste aus beiden Welten – so scheint es am Ende – liegt eben vielleicht doch irgendwo in der Mitte.

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