Aiming High – Diego, Nora & Lionel Baldenweg: „Wenn die Natur entscheidet“

Um ein Haar wäre Aiming High – A Race against the Limits ein ganz anderer Film geworden. Denn im Zentrum der Schweizer Dokumentation steht das sogenannte „Matterhorn Cervino Speed Opening“, der ehrgeizige Plan, zu Fuß des Matterhorns auf rund 3800 Meter Höhe einen spektakulären Skiweltcup durchzuführen. Die beiden Regisseure Flavio Gerber und Alun Meyerhans begleiteten 2022 die Organisatoren bei ihrem Wettrennen mit Zeit und Wetter. Ausgang ungewiss. Hätte alles geklappt, wäre Aiming High der perfekte Werbefilm geworden, der die Region Zermatt-Cervino, den Skisport und die Organisatoren gebührend gefeiert hätte. Doch es sollte anders kommen: Das Projekt scheiterte krachend. Im ersten Jahr mussten alle Starts aufgrund fehlenden Schnees abgesagt werden und im zweiten platzten die Rennen wegen zu starker Winde. 2024 begrub man schließlich all Pläne komplett. Für die Schweizer Dokumentation erweist sich dieser Fehlschlag allerdings als Glücksfall. Denn die Kameras waren in jeder Projektphase dabei und zeigen so die Entwicklung von ehrgeizigen Plänen und anfänglicher Euphorie bis hin zu Frust und Enttäuschung am Ende. So sehen wir die Initiatoren, wie sie in Erwartung von Ruhm, Champus und viel Geld ihre Ziele unermüdlich vorantreiben und immer wieder Zweck-Optimismus verbreiten. Doch mit jeder neuerlichen Absage wirken die Versprechen zunehmend hohler, entlarvender. Wenn in der Erklärungsnot davon die Rede ist, dass die Natur entschieden habe und man das eben respektieren müsse, steht dies im eklatanten Widerspruch zur Hybris des gesamten Projektes, die lebensfeindliche Umgebung in extremer Höhe domestizieren und beherrschen zu wollen.

Doch es ist nicht nur die maßlose Selbstüberschätzung, die der Film zutage fördert. Es ist auch der geschulte Marketing-Sprech der Manager und Organisatoren, zu dessen Selbstverständnis es gehört, zu keinem Zeitpunkt das eigene Scheitern einzugestehen und sich stets gegen jegliche Kritik zu verteidigen. Einmal verkündet der FIS-Präsident allen Ernstes, der neue Ski-Weltcup würde CO₂ sparen, weil die Schweizer Athleten durch die neue Piste kürzere Anfahrtswege zum Training hätten. Doch selbst für Laien ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass der massive Eingriff in die Natur durch Bagger, Planierraupen und Schneekanonen kaum etwas mit Nachhaltigkeit zu tun haben kann. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen des Klimawandels, die den Fortbestand des Skisports ohnehin grundsätzlich existenziell infrage stellen, weil früher oder später vermutlich schlichtweg der Schnee für derartige Wettkämpfe fehlen wird.

Doch die Mechanismen des Leistungssports und der kommerziellen Vermarktung kennen keine Gnade. Nicht nur, dass immer neue Wettbewerbe und Events ohnehin schon vom Tourismus überlastete Orte wie Zermatt über die Belastungsgrenze hinaus strapazieren. Auch die Athleten müssen in diesem System als kleine Räder im Getriebe funktionieren, sei es als publikumswirksame Werbeträger in der Einkaufsmall oder mit immer mehr Risikobereitschaft auf den immer herausfordernder werdenden Pisten. Aiming High begleitet einige der Schweizer Skiasse in ihrem Ringen um sportliche Höchstleistungen. Einer von ihnen, Mauro Caviezel, kämpft sich gerade nach einem schweren Rennunfall zurück und möchte gerne am Matterhorn starten. Doch seine ambitionierten Pläne werden nicht von Erfolg gekrönt: Beim Comeback stürzt er erneut und hängt – obwohl er gerne noch ein paar Jahre gefahren wäre – resigniert seine Ski-Karriere an den Nagel. Das Scheitern, der Druck und die Obsessionen begleiten alle Protagonisten von Aiming High. Doch wie viel ist zu viel? Diese Frage stimmt nachdenklich, insbesondere angesichts von Funktionären, die offenbar keinerlei Grenzen kennen.

Diese Nachdenklichkeit ist auch in der beeindruckenden Filmmusik von Diego, Nora & Lionel Baldenweg (La Cache, Home is the Ocean) angelegt. Das erste Stück, The Race, ist noch eine vorwärtsdrängende, euphorische Hymne auf die Berge, den alpinen Wettbewerb und das Streben nach neuen Rekorden. Mit seinem elektronischen Fundament und der heroischen Hymne, die sich unmittelbar einprägt – eines der schönsten Filmmusik-Themen des laufenden Kinojahres – scheint der Erfolg beinahe greifbar. Der hämmernde Bass unterstreicht das gewaltige Vorhaben angesichts der majestätischen Naturkulisse. Doch gleichzeitig schwingt bereits etwas Gleichmütiges, Stoisches mit. Gegenüber dem gewaltigen Berggipfel des Matterhorns wirkt der Mensch klein. Und so stellt sich unmittelbar die Frage, ob das alles wirklich so funktionieren kann. Wenn die Melodie dann in der zweiten Hälfte vom Cello (gespielt von Cécile Grüebler) übernommen wird, mehren sich diese Zweifel. Die anfängliche Euphorie gerät ins Wanken, die spätere Tragik der Ereignisse kündigt sich an. Und musikalisch nimmt das in gewisser Weise den Spannungsbogen der vielschichtigen Dokumentation vorweg.

Aiming High ist eine im Kern monothematische Filmmusik, in der die Baldenweg-Geschwister das Hauptthema immer wieder neu interpretieren und so die typische Synth-Ästhetik klassischer Sportfilme aufbrechen. Ungetrübten Optimismus kann es hier nicht geben. Und so ist der Intimate Waltz quasi der Gegenpol zu The Race, das Hauptthema auf dem Soloklavier in einer nachdenklich-berührenden Variante. In Nature’s Course liefert das Akkordeon eine ironisch-spöttische Note angesichts der scheiternden Pläne der Organisatoren. Doch wie die Dokumentation gibt auch die Musik die Verantwortlichen nie der Lächerlichkeit preis. So fehlgeleitet das Projekt auch sein mag, so rührt es doch an, wenn der mit sichtlichem Herzblut arbeitende Cheforganisator Franz Julen immer wieder mit den Tränen kämpft, weil sein Lebenstraum in Trümmern liegt. Die sensible Musik der Baldenweg-Geschwister agiert deshalb immer auf mehreren Ebenen zugleich, erzeugt durch Cello und Klavier ein über allem schwebendes Gefühl von Nachdenklichkeit und Melancholie, die sich auf die Tragik menschlichen Scheiterns ebenso bezieht wie auf die absurde Hybris, die Natur bezwingen zu wollen. Wenn einzelne Stücke mit den elektronischen Loops wieder Tempo aufnehmen, dann vermittelt sich gleichzeitig aber auch die ungebrochene Faszination des Skisports, von Tempo und Adrenalin. Manchmal tackert die Musik auch wie ein Metronom, ein Symbol für die unbarmherzig tickende Uhr im Wettlauf mit der Zeit. Und wenn man im Film meint, dass vielleicht doch noch etwas gehen könnte, dann sind es die kühlen Synth-Soundflächen, die alles einfrieren – Spiegel der Unberechenbarkeit des Wetters in alpinen Regionen.

Die Musik ist durchzogen von einer tief empfundenen Nachdenklichkeit und Melancholie. Einfache Antworten kann auch sie natürlich nicht liefern. Am Ende der eindrucksvollen Dokumentation stehen – es überrascht kaum – fast ausschließlich Verlierer: die Athleten, gefangen zwischen Begeisterung für den Sport und vertraglicher Verpflichtung im Ski-Zirkus. Die Geschäftsmänner, die nicht verstehen, dass blindes Wachstum letztendlich das eigene Geschäft aushöhlt; eine Bergregion, die durch den Massentourismus ihre Ursprünglichkeit und damit potenziell auch ihren Reiz verliert. Und die Natur, die durch den fortschreitenden Klimawandel unwiderruflich zerstört wird. Im Kleinen zeigt Aiming High repräsentativ, was im Großen vielerorts passiert – mit dem einzigen Unterschied, dass die Frage „Wie viel ist zu viel?“ hier auf eine äußerst eindeutige Antwort stößt. Die Organisatoren lassen sich davon allerdings nicht beirren: Sie planen zukünftig am Zermatt Rennen von einem anderen, niedriger gelegenen Hang. The show must go on.

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