Blickt man in die Vergangenheit, dann erscheinen historische Ereignisse oft größer, als sie sich für die Zeitzeugen selbst angefühlt haben. Wie chaotisch, hektisch und beiläufig sich die Wirklichkeit in Zeiten des Umbruchs darstellt, zeigt Lionel Baier in seiner Komödie La Cache – The Safe House, die 2025 im Hauptwettbewerb der Berlinale Premiere feierte. Vorlage für den Film war der gleichnamige autobiografische Roman von Christophe Boltanski, der die Geschichte seiner exzentrischen jüdischen Familie während der Pariser Studentenrevolten im Mai 1968 erzählt. Die Boltanskis lebten damals in einem Vorstadthaus unter einem Dach mit vier Generationen. Während seine Eltern meist auf der Straße demonstrieren, bilden die Großeltern für den 9-jährigen Christophe die wichtigsten Bezugspersonen. Neben zwei Onkeln haust im oberen Stockwerk noch die russisch-stämmige Uroma, die in Erinnerungen an ihre Jugend in Odessa schwelgt. Das Haus hütet dazu ein besonderes Geheimnis: ein Versteck, verborgen unter einem Treppenabsatz. Christophe vermutet, dass dahinter eine Katze lebt. Doch in Wahrheit musste sich der Großvater (Michel Blanc in einer seiner letzten Rollen) hier während des Krieges verstecken, um der Deportation durch die Nazis zu entgehen – eine traumatische Erfahrung, die bis in die Gegenwart der Filmhandlung hineinwirkt.
So wie der zugrundeliegende Roman an eine Sammlung von Essays erinnert, wirkt auch Baiers Verfilmung wie ein Kaleidoskop der Erinnerungen. Das Drehbuch ist vollgestopft mit Figuren, Handlungsfäden, philosophischer Betrachtungen und allerhand absurder Alltagsbeobachtungen. Der Film folgt deshalb keiner klassischen Spannungsdramaturgie, sondern versucht in den lose miteinander verbundenen Szenen die Wirren des Frühlings ’68 mit all ihren Unsicherheiten aus Sicht einer Großfamilie einzufangen. Politisches und Privates wird bunt gemischt: Da cruist die Familie mit ihrem „zweiten Zuhause“, dem weinroten Citroën 500 durch die Stadt. Die Großmutter spricht kritische Worte zu den Streikbrechern und führt ein Interview mit einer Mutter, deren Kinder auf der Rückband quengeln. Der Großvater muss sich derweil einer aufdringlichen Patientin erwehren und hofft insgeheim auf den Leitungsjob an einer Klinik. Parallel versucht Chistophes Onkel verzweifelt, seine Bilder zu verkaufen. Die Polizei macht Jagd auf die Demonstranten und in den Nachrichten verfolgen alle gebannt die neuesten Entwicklungen. Und das ist nur der Auftakt zu zahlreichen weiteren Episoden. So charmant und irrwitzig das in Ansätzen – dank des gut aufgelegten Ensembles unterhält – mangelt es La Cache allerdings an einem klaren Fokus. So wollen sich die vielen parallelen Erzählfäden leider nicht so recht zu einem großen Ganzen zusammenfügen.

Besonders deutlich wird dies beim filmischen Höhepunkt: Eines Morgens steht plötzlich ein hoch dotierter Politiker vor der Haustür der Boltanskis und sucht für ein paar Tage einen Unterschlupf. Diese historisch völlig frei erfundene Episode hätte das Potenzial besessen, die gegensätzlichen politischen Lager aufeinandertreffen zu lassen. Doch das Drehbuch belässt es bei ein paar kurzen Pointen, dann ist der Handlungsstrang auch schon wieder vorbei. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wirkt der Film aber zu überladen. Und das ist schade. Denn irgendwie hat man die kauzigen Familienmitglieder in ihrem chaotischen Alltag längst liebgewonnen. Dazu gibt es sehr berührende Szenen, etwa wenn der Großvater sich aus Angst in einem Restaurant unter dem Tisch versteckt, weil in ihm das Trauma der Judenverfolgung wieder aufbricht. Besonders eindringlich gerät dank der sehr ökonomischen Erzählweise auch die Rückblende in das besetzte Paris im Zweiten Weltkrieg. Leider hallen solche Momente aber kaum nach, weil die Inszenierung schon wieder dem nächsten kuriosen Einfall hinterherjagt. So rast La Cache am Ende rastlos durch eine rastlose Zeit – sympathisch und unterhaltsam, aber auch zu hektisch und ausfasernd, um wirklich zu fesseln.
Spannender ist da schon der Blick auf die Tonspur. Der Filmmusik von Diego, Nora & Lionel Baldenweg (In the Land of Saints & Sinners) fällt die wahrlich nicht einfache Aufgabe zu, mit dem energetischen Erzähltempo Schritt zu halten und dabei den Kern, den Zusammenhalt innerhalb der Familie, nicht aus den Augen zu verlieren. Das Trio meistert die Herausforderung mit einer jazzigen Filmmusik, die sich genauso quirlig präsentiert wie Baiers Film selbst. Da treiben die Trommeln den knallig roten Familien-Citroën durch die Straßen. Bassflöte, Trompete, Okarina und Klarinette umspielen die 60er-Jahre-Grooves, als bildeten sie die Vielfalt der Stimmen in der Stadt ab. Und spätestens in Driving in Paris vermeint man das Hupen und die quietschenden Bremsen der Autos auf den Straßen zu hören. Auf diese Weise entsteht eine vielgestaltige urbane Klanglandschaft, in der das Komponisten-Trio je nach Bedarf geschickt das Tempo anzieht oder verschleppt, um sich subtil der Psychologie der Figuren anzunähern. Bemerkenswert ist dabei auch die Spielweise: Die Musiker sollten nicht nur basierend auf Motiven und musikalischen Ideen des Trios improvisieren. Die Bläser bekamen zudem bei den Aufnahme-Sessions die Anweisung, ihre Instrumente so zu spielen, als wären sie außer Atem. Dieser Kunstgriff unterstreicht perfekt das Gefühl von Unruhe und Hektik in den turbulenten Maitagen von 1968, und verstärkt unterschwellig auch die Angstzustände des Großvaters wie in der bereits beschriebenen Restaurant-Szene.
Es passt ein wenig zum ausufernden Inszenierungsstil von La Cache, dass es in der Musik kein tragendes Hauptthema oder klassische Leitmotive gibt. Die Komposition wird stattdessen vom rhythmischen Drive und dem virtuosen Spiel der Bläser zusammengehalten. Und das ist äußerst kreativ: So spielen die Holzbläser im mysteriösen Secrets reizvoll mit dem Geheimnis unter den Treppenstufen. Pfiffig der Dialog zwischen Bassflöte und Trompete in Workers, der originell die Diskussion zwischen Großmutter und Arbeitern spiegelt. In Burning verbeugen sich Klarinette und Trompete mit einer langsamen, aber doch verspielten Melodie vor der unbändigen Lebenslust der Verstorbenen. Und in den lässigen Rhythmen von Revolution mit Klavier, Trompete und Bassflöte fühlt man sich fast an den Sound von Daniel Pemberton The Man from U.N.C.L.E erinnert. Doch naturgemäß geht es in La Cache eine Nummer kleiner zu als im höher-budgetierten Hollywood-Kino. Es gibt hier weder elektronische Klänge noch das große Orchester zu hören. Die Besetzung bleibt klein. Das ist aber mehr als Stärke, denn als Schwäche zu verstehen. Es ist nämlich gerade der unprätentiöse „analoge“ Ansatz, der die launig-rasante Free-Jazz-Filmmusik des Baldenweg-Trios so erfrischend anders und ungewöhnlich klingen lässt.
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