Wenn ein Regisseur eine Woche vor dem Kinostart seinen eigenen Film als gescheitert bezeichnet und sich von ihm distanziert, ist das selbst für Hollywood-Verhältnisse absolut außergewöhnlich. So geschehen beim Psychothriller Schneemann – The Snowman von 2017 nach dem Besteller von Jo Nesbø. Der Film von Tomas Alfredson (Let the right one in) besaß dabei eigentlich alle Zutaten für fesselndes Starkino: eine erfolgreiche Romanvorlage mit Franchise-Potenzial, eine prominente Besetzung mit Michael Fassbender, Rebecca Ferguson, Val Kilmer und J.K. Simmons und die großartige Naturkulisse Norwegens als Originalschauplatz. Doch es sollte alles anders kommen. Das Studio mischte sich ein und verkürzte aus Kostengründen den Dreh in Norwegen, sodass etwa 15 % des Skriptes gar nicht erst gefilmt wurden. Alfredson zeigte sich enttäuscht über diese Einflussnahme, weil er so seine ursprüngliche Vision nicht auf die Leinwand bringen konnte. Hinter den Kulissen tobte ein erbitterter Streit, so dass sich Alfredson am Ende genötigt sah, sich vom Projekt zu distanzieren.

Dem fertigen Film merkt man diese Probleme leider deutlich an. Doch zumindest die erste Filmhälfte gerät zunächst noch ziemlich stimmungsvoll. Wunderschön fängt die Kamera die schneebedeckten Gipfel Norwegens ein, vor der sich die düstere Story abspielt: Ein kleiner Junge, der eben noch einen Schneemann gebaut hat, muss mit ansehen, wie seine Mutter, die gerade von ihrem Liebhaber verlassen wurde, mit dem Auto im Eis versinkt. Das daraus resultierende Trauma wiegt schwer und lässt ihn Jahre später zu einem misogynen Killer werden, der seine Taten stets mit einem fratzenhaften Schneemann als Erkennungszeichen ankündigt. Seine Gegenspieler auf der Polizeiseite: Harry Hole (Michael Fassbender), ein Cop, der sich nach der Trennung von seiner Frau in den Alkohol geflüchtet hat. Ihm zur Seite steht die junge Polizistin Katrine Bratt (Rebecca Ferguson), frisch in seine Abteilung versetzt und mit eigener Agenda in dem Fall. Doch so stark Tomas Alfredson zu Beginn in bester Nordic-Noir-Tradition Spannung aufbaut, so sehr verliert sich die Handlung mit zunehmender Laufzeit in Nebenschauplätzen, in denen Figuren kurz Bedeutung gewinnen, um danach in der Versenkung zu verschwinden. Beispielsweise gibt es einen Subplot um den Wirtschaftsmagnaten Arve Støp (J.K. Simmons), der Olympia nach Oslo holen will und nebenbei einen Prostituierten-Ring betreibt, der völlig im Sande verläuft. Auch manche Szene wirkt absurd, wie die, in der der Killer in Holes Wohnung eindringt, ohne dass anschließend jemals deutlich wird, was er da eigentlich wollte. Und wenn der Film am Ende die Identität des Täters lüftet, ist die Überraschung zwar groß, aber nur deshalb, weil diese Enthüllung, je länger man darüber nachdenkt, ziemlich plump und unwahrscheinlich anmutet.

Das Ärgerlichste an The Snowman sind aber gar nicht solche Ungereimtheiten, sondern vor allem das verschenkte Potenzial bei so viel Talent vor und hinter der Kamera. Das Beste am durchschnittlichen Film ist neben der vorzüglichen Kameraarbeit noch die Filmmusik von Marco Beltrami: Sie beginnt mit einem eindrucksvollen Main Title: Das klirrende Spiel der Nyckelharpa macht sofort die schneidende Kälte als auch die Isolation in den schneebedeckten Bergen Norwegens spürbar. Eine abgründige Klaviermelodie folgt. Das Orchester übernimmt zeitweise mit Streichern und Holzbläsern. Für einen Psychothriller ist das ein überraschend lyrischer Beginn, in dem viel Empathie für die Figuren steckt. Doch gleichzeitig erzeugen eingeschobene Geräuscheffekte und kleine Dissonanzen bereits ein Gefühl des schleichenden Unbehagens, ein erster Hinweis darauf, dass aus dem traumatischen Tod der Mutter wohl nichts Gutes entstehen wird.
Für die eisigen Sound-Kollagen zeichnete einmal mehr Beltramis langjähriger Mitstreiter Buck Sanders verantwortlich, der hier die Idee einbrachte, Saiten zusammen mit einem Hydrofon einzufrieren und die Klänge aufzuzeichnen. Die so erzeugten Naturgeräusche betten die Kälte, den fallenden Schnee und das Pfeifen des eisigen Windes in die spröde Klanglandschaft ein. Beltrami fusioniert diese Ebene des Sound-Designs raffiniert mit dem Spiel des Orchesters oder einzelner Instrumente wie Klavier oder Nyckelharpa. Die Klangtüftelei, die hinter der atmosphärischen Musik steht, setzt die Komposition dabei deutlich vor vielen schwächeren Arbeiten im Thriller-Genre ab. Und mit Down the Harry Hole und seinem im Stakkato wiederholten Klaviermotiv, zu dem erst Streicher, elektronische Effekte und dann das Orchester treten, gelingt Beltrami ein markantes Suspense-Highlight.
Doch wenn der Film sich in der zweiten Filmhälfte zunehmend verzettelt, bleibt auch Beltrami nicht viel anderes übrig, als sich allein den Erfordernissen der Spannungsdramaturgie unterzuordnen. Die feinteilige motivische Arbeit verschwindet zwar nie völlig, doch elektronische Beats, Genre-typische Schockeffekte und brodelnde Sounds nehmen immer mehr Platz ein. Das mag auch daran liegen, dass neben Beltrami und Sanders auch noch Brandon Roberts, Miles Hankins & Dennis Smith zusätzliche Musik beisteuerten – möglicherweise dem Zeitmangel angesichts der turbulenten Produktionsumstände geschuldet. Aber ein wenig geht damit auch schleichend die Identität der Musik verloren – was eindeutig an der filmischen Vorlage liegt, die am Ende jegliche Psychologisierung über Bord wirft. Erst mit den letzten drei Stücken wird es wieder etwas besser: Das melancholisch-lyrische Barn Find bietet eine wunderschöne Katharsis, die neben dem Nyckelharpa-Motiv zugleich reizvoll die Melodie der Holzbläser aus den Main Titles wieder aufgreift. The Hole Family begleitet die zarte Annäherung Holes an seine Familie mit einer versöhnlich-nachdenklichen Klaviermelodie. Und Carillon My Wayward Son beendet die Komposition schließlich mit seiner versponnenen Mischung aus Kirchenglocken, Klavier und elektronischen Sounds genauso eigensinnig, wie sie begonnen hat.
Doch selbst dieses gelungene Finale wirkt nicht wie aus einem Guss, schlägt keinen echten musikalischen Bogen und vermag nicht, nochmals einen entscheidenden Akzent zu setzen. Gut möglich, dass so viel am Skript und am finalen Schnitt herumgedoktert wurde, dass letztendlich auch Marco Beltrami das Interesse verloren hat. Vielen Stücken merkt man zwar noch die ursprüngliche Ambition an, weshalb The Snowman filmmusikalisch in Teilen äußerst hörenswert ist. Doch anders als bei In the Electric Mist entsteht dieses Mal nicht mehr als die Summe der Einzelteile. Und das ist beim enormen Talent des Komponisten dann doch ziemlich enttäuschend. Was Beltrami wohl heute über dieses Projekt denken mag? Immerhin musste er damals für The Snowman die Arbeit an Guillermo del Toro The Shape of Water absagen, für die Alexandre Desplat bekanntermaßen später den Oscar gewann. Das wäre ein prestigeträchtiges Projekt gewesen, das seiner Karriere einen gehörigen Schub hätte verleihen können. Doch das sollte wohl leider nicht sein.