Im sechzigsten Disney-Animationsfilm Encanto ist einiges anders: Im Mittelpunkt der Handlung steht keine auf ihren Prince Charming wartende Prinzessin, sondern die bebrillte Teenagerin Mirabel und die hat mit ihren gelockten schwarzen Haaren nur wenig mit dem klassischen Schönheitsideal früherer Filme des Studios zu tun. Ihre 12-köpfige Familie, die Madrigals, lebt isoliert in einem Dorf in den Bergen Kolumbiens. In jungen Jahren ist die Großmutter Alma hierhin geflüchtet, als Folge von gewaltsamen Konflikten zwischen Liberalen und Konservativen in einer Epoche von 1948 bis 1958, die in der Geschichte Kolumbien unter dem Namen „La Violencia“ bekannt ist. Als direkte Folge der traumatischen Vertreibung und Entwurzelung, verbunden mit dem Tod von Almas Mann, entstand eine magische Flamme, das „Encanto“, Lebensquelle der Familie, die jedem einzelnen Mitglied besondere Fähigkeiten verleiht: So können Mirabels Schwestern, große Lasten heben, Blumen wachsen lassen und die Mutter ist in der Lage, mit ihren Speisen Krankheiten und Verletzungen zu heilen. Nur Mirabel hat bei ihrem eigenen Initiierungsritus – zum Entsetzen aller – keine Zauberkraft verliehen bekommen. Für die strenge Großmutter ist das mehr als ein schlechtes Omen, ist ihr Mantra doch, dass jeder mit seiner magischen Fähigkeit einen Teil zum Erhalt der Familie beitragen soll.

Mirabel kann das nicht und wird deshalb von den anderen in der Familie eher gemieden. Ihr geht es da ähnlich wie ihrem Bruder Bruno, der die Familie einst unter mysteriösen Umständen verließ. „Wir sprechen nicht über Bruno“ heißt es in einem Filmlied. Und wenn Dinge unter den Teppich gekehrt und einzelne ausgegrenzt werden, steht es auch um den Familienzusammenhalt schlecht. Das macht sich bemerkbar: Das magische Haus der Madrigals, „La Casita“, bekommt zunehmend Risse. Die über allen thronende magische Flamme droht zu verlöschen, und die angeblich Schuldige dafür ist mit der von Selbstzweifeln geplagten Mirabel schnell gefunden. Es liegt deshalb an ihr, das Familiengeheimnis zu ergründen und alle schwelenden Konflikte aus dem Weg zu räumen. Wie wenig es dafür tatsächlich braucht, unterscheidet Encanto ebenfalls deutlich von anderen Disney-Filmen. Die gesamte Handlung spielt nämlich fast ausschließlich an einem Ort. Und ein wirkliches Abenteuer durchlebt Mirabel dabei genauso wenig, wie es einen echten Bösewicht gibt. Hier bleibt am Ende alles in der Familie.
Bryan Howard und Jared Bush inszenieren die magische Welt der Madrigals dafür als farbenfrohes, schnell geschnittenes Spektakel, detailverliebt und mitunter beinahe fotorealistisch animiert. Doch so schön das alles anzusehen ist und so sympathisch die Figuren erscheinen, ist die inhaltliche Botschaft nicht unproblematisch: Geschenkt, dass auch dieser Disney-Vertreter einmal mehr das Hohelied auf den Zusammenhalt innerhalb der Familie singt. Wirklich ärgerlich ist aber die seltsame Umkehrung der Verhältnisse: Es ist nämlich die verunsicherte Mirabel, eigentlich Opfer von Ausgrenzung, die die Konflikte lösen muss, um das Familienglück als Idealzustand wiederherzustellen. Ein Leben außerhalb und in kritischer Distanz von „La Casita“ ist im Kosmos von Encanto undenkbar. Als Opfer hat man die Zustände auszuhalten und ist gleichzeitig dafür verantwortlich, die Probleme aus der Welt zu schaffen, unter denen man leidet – so die verquere Logik. Natürlich löst sich das am Ende rasch in Wohlgefallen auf. Alle Familienmitglieder erkennen ihre Fehler und der Status quo ist wiederhergestellt. Dennoch verbirgt sich dahinter im Kern eine fragwürdige Botschaft, die die Folgen von Diskriminierung verharmlost und durch das triviale Happy End suggeriert, dass sich jeder Konflikt schon irgendwie wieder gerade biegen lässt, wenn sich alle nur ein bisschen mehr anstrengen.
In Encanto werden die Untiefen des Drehbuchs clever mit Musik und Gesang verkleidet. Die Filmmusik offenbart ein Spannungsfeld zwischen kommerziellem Kalkül und aufrichtigem Interesse für die kolumbianische Folklore. Der Film gründet im magischen Realismus, zu dessen bedeutendsten Werken Hundert Jahre Einsamkeit vom kolumbianischen Schriftsteller Gabriel García Márquez zählt. In Encanto wird diese Magie allerdings – wenig überraschend – disneyfiziert. Zwar legte man Wert darauf, mit der Newcomerin Germaine Franco eine lateinamerikanische Komponistin zu verpflichten. Doch das Hauptthema ihrer Musik (¡Hola Casita!), das für die magische Flamme und den Familienzusammenhalt steht, erinnert mit seinem Chorraunen unmittelbar an klassische Disney-Märchen und verortet damit den Film entsprechend. Doch gerade, weil zu Beginn der Handlung eine berührende Fluchtgeschichte mit realem Hintergrund steht, wirkt dieser Einstieg deplatziert, fast so als müsste man dem Zuschauer versichern, dass es sich trotz des ungewöhnlichen Beginns um ein „richtiges“ Disney-Märchen handelt.
So unnötig das erscheint, nutzt Germaine Franco in ihrer Musik dennoch die Gelegenheit, ausgiebig mit Elementen der kolumbianischen Folklore zu spielen. Rund ein Jahr lang hatte sie für ihre Komposition Zeit. Und das hört man den mitreißenden Stücken an: Die Instrumentierung mit lateinamerikanischen Instrumenten wie Tiple, Bandola & Cuatro (Gitarren), Charango (eine Laute), Arpa Llanera (eine kolumbianische Harfe), Tambora-Trommeln und Marimba ist liebevoll. Franco übernimmt dazu viele traditionelle Tänze und Rhythmen Kolumbiens: So macht sie den Cumbia, den klassischen kolumbianischen Paartanz, mit seinem charakteristischen Akkordeonspiel und synkopierten Rhythmen im 2⁄4 oder 4⁄4-Takt zur Grundlage einiger Stücke. Beispiele dafür sind die Vorstellung der Familie in Meet La Familia oder Mirabels elegantes Leitthema in Mirabel’s cumbia. Und wenn ein Abendessen, bei dem die Heirat einer der Töchter verhandelt werden soll, immer weiter eskaliert, erklingt der ironische Dysfunctional Tango, in dem kleine Dissonanzen und verschobene Rhythmen die feinen Risse im Familienzusammenhalt spürbar machen. Pure Lebensfreude verströmt das Spiel von Saxofon, Gitarre und Klavier über Trommelrhythmen in El Baile Madrigal und wenn Mirabels Cousin Antonio endlich seine lang ersehnte Gabe erhält, steigern sich ein – während der Corona-Pandemie – per Zoom zusammengerufener afroamerikanischer Chor zusammen mit dem Orchester zu einer freudestrahlenden Hymne.
Die Musik von Germaine Franco ist immer ganz bei sich, wenn sie sich ganz der kolumbianischen Folklore verschreibt und wenn diese Elemente auch in die orchestralen Stücke einfließen. Doch leider gilt das nicht für die komplette Musik. Viel Aufmerksamkeit erhielten zum Kinostart die Songs von Lin-Manuel Miranda (Hamilton). Der zwischen Latino-Pop und Vallenato pendelnde We Don’t Talk About Bruno avancierte gar zum Überraschungshit in den US-Billboard-Charts, und das lieblich-schöne Dos Oruguitas wurde neben Musik und Animationsfilm für den Oscar nominiert. Aus der Reihe fällt dagegen das markante, von harten R&B-Beats bestimmte Surface Pressure, das die auf Frauen lastenden Erwartungen beklagt. Die Disney-typische Schmacht-Ballade (Waiting On A Miracle) darf ebenfalls nicht fehlen und fällt mit ihrem klassischen Musical-Stil ebenso aus dem Rahmen wie das überbordende Ensemble-Lied The Family Madrigal. Ganz auf englischsprachige Songs im klassischen Disney-Stil konnte und wollte man offenbar doch nicht verzichten. So steht hier seichter Musical-Kitsch neben starken Latino-Nummern wie dem bereits erwähnten Dos Oruguitas oder dem mitreißenden Colombia, Mi Encanto.
Ohne Zweifel steckt im positiven Sinn viel drin in der Filmmusik zu Encanto. Langweile kommt in Germaine Francos Komposition zu keiner Sekunde auf. Schwachpunkt ist allerdings die inkonsistente Tonalität. Man ahnt, dass Disney hier nichts dem Zufall überlassen und alle Zielgruppen zufriedenstellen wollte. Die bunte Mischung aus Folklore, Musical und modernen Pop-Einflüssen steht deshalb etwas separat neben – oft etwas generisch und kurzatmig wirkenden – Orchesterstücken, in denen der wortlose Chor magisch raunt oder das Orchester etwas holprig die wenigen Spannungsmomente nachzeichnet. Vielleicht spiegelt das auch die Unerfahrenheit der jungen Komponistin bei ihrem ersten großen Engagement wider. Bedenken muss man allerdings auch die widrigen Umstände der Musikproduktion inmitten der Corona-Pandemie 2020. Leicht war das sicher nicht. Das Ergebnis kann sich trotz allem mehr als hören lassen. Ihre Magie bezieht die Musik allerdings nicht auf klassische Disney-Weise aus dem Spiel von Orchester & Chor oder den Musical-Songs, sondern allein aus der zauberhaften kolumbianischen Folklore.