Klassische Märchen jenseits der Verniedlichungsmaschinerie des Disney-Studios sind im Kino nur noch selten zu finden. Das Märchen aller Märchen von Matteo Garrone bildet da eine rühmliche Ausnahme. Der Episodenfilm von 2015 verbindet drei Geschichten aus dem Pentameron des neapolitanischen Schriftstellers Giambattista Basile (1566-1632). Das Pentameron gilt als erste Märchensammlung überhaupt und diente später nicht nur den Gebrüdern Grimm als Inspirationsquelle. In seiner Verfilmung nimmt sich Matteo Garrone allerdings manche Freiheit gegenüber der Vorlage, wenngleich er den Grundplot in groben Zügen übernimmt: Die erste Episode handelt von einer verzweifelten Königin (Salma Hayek), die sich ihren Kinderwunsch mithilfe eines Zauberers erfüllt. Doch das hat seinen Preis: Ein Meeresungeheuer muss erlegt und das Herz des Monsters – von einer jungfräulichen Köchin zubereitet – verzehrt werden. Am Ende bekommt die Königin tatsächlich einen Sohn namens Jonas. Doch parallel wird auch die Köchin schwanger und gebiert einen Zwillingsbruder. Beide Kinder verbindet eine enge, standesübergreifende Bande, ganz zum Missfallen der eifersüchtigen Regentin. Ein zweiter Handlungsstrang erzählt von zwei gealterten Schwestern. Die eine, Dora, betört mit ihrem Gesang den jungen König (Vincent Cassel) und kann ihn mit einer List zu einer gemeinsamen Nacht überreden. Der Schwindel fliegt auf und Dora wird in unsanfter Manier in den Wald verbannt. Eine Hexe rettet sie und gibt ihr mit einem Zauber die verlorene jugendliche Schönheit zurück. Und in der dritten Episode möchte ein König (Toby Jones) seine Tochter verheiraten. Heimlich hat er eine Laus zu überdimensionaler Größe gezüchtet. Als das Tier stirbt, verspricht er seine Tochter demjenigen Anwärter, der anhand der abgezogenen Haut erraten kann, um welches Tier es sich handelt. Dumm nur, dass ausgerechnet ein grober, ungehobelter Riese der einzige Kandidat ist, der die Lösung kennt.
Garrone inszeniert ungewöhnlich distanziert, mit einem beobachtenden, beinahe gleichmütigen Duktus. Der Film begleitet die Figuren in ihrem Tun, bewertet dies aber nicht. Wunderschön ist die von starken Farbkontrasten lebende Kameraarbeit: Da residiert Salma Hayek ganz in Schwarz gekleidet in einem Saal voller weißer Ornamentik. Dora erwacht mit ausgebreiteten roten Haaren in einem dunkelroten Kleid vor der sattgrünen Kulisse des Waldes. Doch so kunstvoll diese Bildeinstellungen sind, so unvermittelt und drastisch ist der Gegensatz, wenn die Armut in den Vordergrund rückt. Dora und ihre Schwester hausen in einfachsten, dreckigen Verhältnissen – ihre Gesichter von den Entbehrungen und dem harten Existenzkampf entstellt. Wenn ihre Stimme den König umgarnt, dann ist es vielleicht auch ein Symbol dafür, was in einem anderen Leben für sie möglich gewesen wäre. Doch die Trennlinie zwischen Adel und Nichtadel ist scharf. Sie verläuft gleichermaßen zwischen den äußerlich identisch aussehenden Zwillingsbrüdern mit ihren schneeweißen Haaren. Das Privileg des Reichtums und der Sicherheit ist nur demjenigen von beiden gegeben, der zufällig auf der richtigen Seite geboren wurde. So stellt das Drehbuch ganz beiläufig Fragen um Moral und Ethik. Wie weit darf der Kinderwunsch der Königin gehen? Ist es richtig, dass der infantile König zu seinem Wort steht, damit aber zulässt, dass die eigene Tochter an einen Finsterling gerät? Und wie monströs ist dieser einsame Riese eigentlich wirklich?
Interessant ist angesichts der distanzierten, wenig immersiven Inszenierung auch die Filmmusik des Oscar-Preisträgers Alexandre Desplat: Wenn die Kamera in den ersten Szenen die Gaukler eines Zirkus zeigt und der Franzose einmal mehr mit kreisenden Motiven und filigranen Klangspielereien loslegt, sorgt dies zunächst für Verwunderung. Das glattpolierte Klangbild und die geringe Bezugnahme auf das Leinwandgeschehen befremden. Das will irgendwie nicht so recht zusammenpassen und konterkariert den versponnenen Weltenbau. Wenn Garrone sein bildgewaltige Märchenreich von Herrschern, Zauberern, einfachem Volk und monströsen Kreaturen ausbreitet, würde man dann nicht auch eine Musik erwarten, die dem mit Barock- und Folklore-Elementen Rechnung trägt? Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Zum einen wurde Desplat sehr spät beauftragt und hatte darum nur wenig Zeit für ausführliche Recherchen. Zum anderen passt seine Musik in gewisser Weise durchaus zum eigenwilligen Inszenierungsstil. Denn Garrones spröder Film erinnert nicht zufällig an Pasolinis Trilogie des Lebens aus den 70er-Jahren und könnte darum auch kaum weiter entfernt von aktuellen Mainstream-Produktionen im Fantasy-Genre sein. Das ist für aktuelle Sehgewohnheiten natürlich außergewöhnlich und verlangt eine gewisse Bereitschaft vom Zuschauer, sich darauf einzulassen. Wenn man das kann, dann versteht man auch, warum die Filmmusik abseits der üblichen Genre-Stereotype agiert.
So mag das Hauptthema mit seinen enigmatischen Klanggebilden aus Glockenspiel, Flöte, Harfe und Streichern zwar eingangs deplatziert wirken, passt aber – spätestens wenn der Abspann rollt – retrospektiv doch erstaunlich gut zu der gleichmütig voranschreitenden Handlung. Es ist eines von mehreren starken Themen, die erst beim mehrmaligen Hören ihren vollen Zauber verbreiten. Dazu zählt auch eine melancholische Streichermelodie, die der Sehnsucht der Hauptfiguren Ausdruck verleiht. Und so mag der Ersteindruck täuschen: Die Filmmusik ist stärker als es anfangs scheint. Gleichwohl bewegt sich Alexandre Desplat, sicher auch dem Zeitmangel geschuldet, dennoch fast ausschließlich in seiner kompositorischen Komfortzone. Angesichts der zum Teil drastischen Märchenszenen wünschte man sich bisweilen eine weniger berechenbare Musik, die sich auch einmal traut, die Abgründe von Elend, Brutalität und Leidenschaft auszuloten. Ob nun die Schwestern in ihrer Kammer ihre List aushecken, die Königin versucht, den ungeliebten Zwillingsbruder zu ermorden oder der spleenige König seine bizarre Riesenlaus pflegt – Desplats gleichförmige Musik nimmt diesen Szenen mit ihrem Wohlklang jede Härte und verwässert damit zwangsläufig ihre Wirkung. Mitunter macht sich die enge Deadline auch kompositorisch bemerkbar. Dies fällt insbesondere in den Spannungs-Sequenzen auf, die Desplat mit eher simplen Streicherostinati ausstattet.
So hinterlässt Das Märchen der Märchen filmmusikalisch einen durchwachsenen Eindruck. Betörende Passagen wechseln hier mit eher banalen Vertonungsschablonen ab. Das Schillernde kommt auf der Tonspur leider nur selten zum Ausdruck. Richtig funktioniert hat das ambitionierte Projekt an den Kinokassen ohnehin nicht. Außerhalb Italiens fand Garrones Film kaum Beachtung, sodass es überrascht, dass überhaupt eine deutschsprachige Blu-ray existiert. Desplats Filmmusik hatte weniger Glück: Sie erhielt zwar eine Nominierung für den David-Di-Donatello-Award, wurde aber bis heute weder auf CD noch als Download veröffentlicht. Lediglich eine 8-minütige Suite mit den Hauptthemen landete auf YouTube (s.o.). Das ist besser als nichts und trotzdem schade. Denn genauso wie Matteo Garrones Film unbedingt sehenswert ist, hätte auch Desplats klangschöne Filmmusik – allen Schwächen zum Trotz – eine Veröffentlichung mehr als verdient.