Egal ob Romeo & Julia, Hamlet oder Frankenstein, Dracula & Co. Alle paar Jahre wieder kommen sie in die Kinos, die großen Literaturklassiker. Und so verwundert es kaum, dass Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson ebenfalls regelmäßig für die Leinwand herhalten muss. 2005 wagte sich Nick Stillwell in seinem Regiedebüt unter dem Titel Reborn – The New Jekyll + Hyde an einer radikal modernisierten Variante. In seiner Adaption spielt die Handlung in der Gegenwart und Jekyll ist hier der Medizinstudent Jay, der bewusstseinserweiternde Designerdrogen entwickelt und als „Hyde“ nachts vergewaltigend und mordend durch die Straßen zieht. So weit, so vielversprechend. Doch das Projekt stand unter keinem guten Stern: Die letzte größere Adaption des Stoffes, Mary Reilly, war 1996 trotz Julia Roberts und John Malkovich in den Hauptrollen einer der großen Kinoflops seines Jahrgangs gewesen. Und Stillwells neuerlicher Versuch, dem Klassiker Leben einzuhauchen, scheitert ebenfalls: Bryan Fisher spielt den obsessiven Wissenschaftler erschreckend hölzern. Und das löchrige Drehbuch versucht den Mangel an Tiefe und Spannung immer wieder durch irritierende Zeitsprünge auszugleichen. Völlig zu Recht hat es Reborn deshalb nicht in die Kinos geschafft und wanderte stattdessen direkt in die Regale der Videotheken.
Das Interesse am diesem ziemlich misslungenen Thriller könnte hier enden, wüsste man nicht, dass Patrick Doyle die Musik komponiert und mit dem London Symphony Orchestra aufgenommen hat. Der Schotte ist in der Vergangenheit nicht gerade durch Engagements für B-Movies aufgefallen und so kann man nur rätseln, was ihm an diesem Projekt gereizt haben mag. Vielleicht war es die Möglichkeit, sich einmal an einem kontrapunktischen Musikeinsatz zu versuchen. Denn in Reborn kontrastiert er urbane Stadtszenen mit elegischer sakraler Musik. Das zentrale Hauptthema seiner Vertonung ist das Kyrie Eleison (deutsch: „Herr, erbarme dich!“), welches in seinen Harmonien eindeutig auf die liturgische Verwendung in der Kirchenmesse verweist, in der es traditionell der Einleitung (Introitus) folgt. Auch im Film steht es am Anfang. Es wird von Doyles Tochter Abigail als Sopranistin über dem Vorspann gesungen (ab Minute 1:48 zu hören):
Es liegt nahe, dass das Lied mit seinem religiösen Gehalt auf das schicksalsträchtige Spiel mit der Schöpfung verweist. Doyles Vertonung „ahnt“ quasi die fatalen Folgen der Handlung voraus und nimmt eine trauernde Haltung ein. Das Kyrie Eleison wird so zu einem berührenden musikalischen Grundgedanken, der sich völlig von der Dramaturgie und dem Erzähltempo des Filmes löst, es in vielen Szenen sogar merklich drosselt. Die Idee dazu ist klar: Die klassische Musik wird zu einem Symbol der Menschlichkeit, in einer kühlen, fast dystopisch anmutenden Welt. Deutlich wird dieser Gegensatz auch in einer Schlüsselszene, in der Hyde nachts einen Nebenbuhler auf einem Hochhausdach hinrichtet: Doyle begleitet sie mit einer ethnischen Vokalise über Streichern, die in ihrem getragenen Gestus erneut im starken Kontrast zu den Bildern des brutalen Mordes steht.
Für einen Horrorfilm, der irgendwie hip sein möchte und Spannung erzeugen will, erscheint das kontraproduktiv, passt aber wiederum zur eigenwilligen Drehbuchkonstruktion, die bereits in der ersten Szene den Suizid der Hauptfigur vorwegnimmt. Denn auch wenn es an einer konsequenten Umsetzung dieser Idee mangelt, erlebt der Zuschauer Reborn mehr als unheilvolle Passionsgeschichte denn eine den klassischen Stereotypen des Horrorkinos verpflichtete Erzählung. Doch so recht mag sich der Film nicht für eine von beiden Richtungen entscheiden. Und das zeigt sich auch am äußerst unentschiedenen Musikeinsatz: Zum einen macht Doyle viel zu wenig aus der konzeptuellen Klammer der Kirchenmesse. Das wunderschöne Kyrie Eleison taucht ohne große Entwicklung gleich mehrfach als Reprise auf. Zum anderen werden die expliziten Mordszenen ziemlich plump mit einem schlichtem sonoren Brummen und schrillen elektronischen Soundeffekten untermalt. Dazu ein paar alternative Rocksongs und fertig ist der Soundtrack zu Reborn. Bis heute ist die Musik (die orchestralen Anteile nehmen etwa 15 Minuten ein) unveröffentlicht geblieben. Das ist kaum verwunderlich, weil sie in Gänze ohnehin kein autonomes Hören trägt. Was am Ende übrig bleibt, sind die beiden zentralen orchestralen Schaustücke von Patrick Doyle. Die sind aber derart gelungen, dass man sich eine aus ihnen bestehende Konzert-Suite wünschte. Dass es dazu kommen wird, ist aber wohl mehr als unwahrscheinlich.