Nosferatu – Robin Carolan: „Mehr Schatten als Licht“

Der berüchtigte Graf Orlok ist im neuen Nosferatu von Roland Eggers ein animalischer Berserker, das personifizierte Böse, durch und durch furchterregend. Sein Gesicht, mit dem dicken Schnurrbart, wird meist im Halbschatten gefilmt und lässt sich daher kaum erkennen. Sein bestialischer Körper ist verfallen. Ganz im Gegensatz zu Francis Ford Coppolas Dracula-Version von 1992, die dem Vampir ein menschliches Antlitz und eine Historie gab, will Nosferatu bei Eggers zerstören, seinen Opfern nicht nur ihr Blut, sondern auch alle Menschlichkeit aussaugen. Die grausame, erbarmungslose Härte, mit der er das tut, verankert den berüchtigten Antagonisten der Kinogeschichte damit eindeutig im neuzeitlichen Horrorkino, ähnlich fratzenhaft wie er bereits in Die letzte Fahrt der Demeter zu sehen war. Das macht durchaus Sinn. Denn damit Nosferatu auch anno 2024 noch seinen Zuschauern das Fürchten lehren kann, muss er zwangsläufig dämonischer, archaischer und entmenschlichter erscheinen, als in allen vorangegangenen Interpretationen.

Eggers verfolgt diesen Ansatz mit bedingungsloser Konsequenz. Die Kamera schwelgt in eindrucksvollen, sorgfältig komponierten Bildern, allen warmen Farben entsättigt. So entsteht fast der Eindruck eines viragierten Schwarz-Weiß-Filmes, womit die Neuauflage unmittelbar die Brücke zu Murnaus berühmten Stummfilm von 1922 schlägt. Im Großen und Ganzen hält sie sich an die altbekannte Handlung. Allein bei der Hauptfigur, Ellen (gespielt von Johnny Depps Tochter Lily-Rose), verschiebt das Drehbuch den Fokus merklich, rückt sie und ihre Pein stärker in den Vordergrund. Ellen ist bei Eggers eine eigenständige, autonome Persönlichkeit. Ihre Anziehung zu Nosferatu beruht auf einer mysteriösen Verbindung seit Jugendtagen, in denen sie den Vampir in einsamen Nächten zum sexuellen Vergnügen heraufbeschwor. Seither wird sie von wiederkehrenden Albträumen, bösen Vorahnungen und epileptischen Anfällen geplagt. Stand bei Coppolas Dracula noch das sexuelle Erwachen der weiblichen Hauptfigur im Vordergrund, treiben Ellen vor allem morbide Gedanken um: Schmerz, Lustgewinn und Todessehnsucht vereinen sich in ihr zu einer überwältigenden Melancholie, so wie eine Depression um die Jahrhundertwende herum noch genannt wurde. Die Männer begegnen Ellens Leid allerdings mit großem Unverständnis. Man fesselt die „hysterische“ Frau kurzerhand ans Bett.

Manche Filmanalyse interpretierte dies so, dass hier eine Frau, die nicht den gängigen Erwartungen einer patriarchalen Gesellschaft entspricht, domestiziert würde und Nosferatu als Sinnbild für ihre unterdrückte Sexualität stünde. Das ist ein interessanter Gedanke. Jedoch bleibt diese feministische Lesart dann doch eher unterentwickelt. Nosferatu verfügt über keinerlei erotische Verführungskraft, die schlüssig erklären könnte, warum Ellen bereitwillig seinem Bann erliegt oder sich von ihm angezogen fühlt. Natürlich könnte man argumentieren, dass die Macht des Vampirs zu groß ist, als dass sie sich ihm ernsthaft entziehen könnte. Doch genau das spräche ihr gleichzeitig die Möglichkeit eines eigenmächtigen Handelns ab. Das Drehbuch bleibt genau an dieser Nahtstelle schwammig, auch weil unklar bleibt, ob ihre Depression erst durch die Bindung mit Nosferatu entstanden ist oder ihre Krankheit erst den Ausgangspunkt bildete, ihn zu rufen. Spätestens wenn Eggers eine Exorzist-verdächtige Teufelsaustreibung inszeniert, kann man sich über die Kausalität nicht mehr ganz sicher sein und würde zustimmen, dass es sinnvoll ist, einen Menschen mit derartigen Wahnvorstellungen vor sich selbst und das Umfeld vor ihm zu schützen. Ähnlich uneindeutig bleibt Ellens Ehe zu Thomas Hutter. Liebt sie ihn wirklich oder ist es nur die verzweifelte Flucht in ein bürgerliches, gesellschaftskonformes Leben angesichts ihrer geheimen Sehnsüchte? Zwar inszeniert Eggers beider Beziehung etwas unterkühlt. Doch es fällt gar nicht so leicht zu unterscheiden, ob das eine bewusste Intention des Drehbuchs oder einfach nur der eiskalten filmischen Ästhetik geschuldet ist. „Er befriedigt mich, wie du es nie könntest.“ wirft Ellen einmal den konsternierten Thomas an den Kopf. Doch zu diesem Zeitpunkt ist sie längst nicht mehr Herrin ihrer Sinne und derart von Orlok besessen, als dass sich daraus eine schlüssige gesellschaftskritische Botschaft extrahieren ließe.

Diese Uneindeutigkeit ist eine große Schwäche des neuen Nosferatu, nicht weil die Offenheit falsch wäre, sondern weil der Film mehrere Ziele verfolgt, die sich gegenseitig im Weg stehen. So will er feministische Untertöne andeuten, aber auch gleichzeitig als effektgeladener Horrorschocker und elegante Stummfilm-Hommage funktionieren. Diese unterschiedlichen filmischen Ebenen gehen aber nie wirklich zusammen. So bleibt ein düsterer, nihilistischer Nosferatu übrig, der in seinen morbiden Bilderwelten zwar unbedingt sehenswert ist, in seinem Stilwillen aber über das Ziel hinausschießt. Auch die von manchem sehr gelobte Filmmusik von Robin Carolan (der bereits für The Northman verantwortlich zeichnete) vermag es nicht, einen anderen Akzent zu setzen. Sie ordnet sich völlig der fahlen Ästhetik des Films unter. Der britische Komponist bemüht, inspiriert von Bartok und Penderecki, vorwiegend Genre-Klischees: aleatorische Elemente, die gezupften Streicher, den mal kreischenden mal gespenstisch flüsternden Chor oder die Orchester-Crescendi für die Schock-Effekte. Das ist alles nicht wirklich neu. Doch immerhin verfolgt Carolan seine musikalische Vision mit beeindruckender Konsequenz. Ähnlich wie der farb-entsättigte Film mit seiner nahezu monochromen Bildgestaltung wirkt auch die Komposition so, als hätte man ihr alles Leben, alle Fröhlichkeit, entzogen. So wie sich der Schatten des Vampir-Grafen über die Stadt Wisborg legt, drückt sich auch die daraus resultierende bleierne Schwere in der Musik aus.

Ein besonderer Aspekt von Carolans Arbeit ist der – auf Anweisung von Eggers – völlige Verzicht auf elektronisch erzeugte Klänge. Dank einer detailverliebten Instrumentierung, in der auch ungewöhnliche Klangkörper wie das Semantron, ein rumänisches Schlagbrett, vorkommen, entwickelt sein Nosferatu trotz der vielen Klischees eine eigenwillige, morbide Sogkraft. Doch wie der Film gibt es dabei möglicherweise zu viel „Grau in Grau“. Selten einmal schimmern thematische Akzente auf: Das kammermusikalische Liebes- bzw. Abschieds-Thema für Ellen und Thomas (Goodbye) bleibt verhalten, wirkt mit seinem minimalistisch kreisenden Streichermotiv nur vordergründig emotional und scheint keinen echten Bezug auf das Paar zu nehmen. Das könnte man durchaus als Hinweis darauf verstehen, dass die Liebe eher auf bürgerlichen Konventionen als wahren Gefühlen basiert. Doch so richtig weiß man es eben nicht, weil der stilisierte Film seinen Figuren nur wenig Kontext zugesteht und damit bewusst vieles im Vagen lässt. Über lange 97 Minuten der Komposition dominiert deshalb das Atmosphärisch-Geräuschhafte. Dennoch gibt es einige markante Stücke wie das Spieluhr-Thema, das auf Ellens Kindheit verweist oder die abgründigen Streicher in Premonition, die Ellens Vorahnungen mit dem 2-Noten-Motiv für Orlok untermalen. Nachdem der Chor in The Third Night im Ansatz ein wenig an Wojciech Kilars Dracula-Vertonung erinnert, kulminiert Carolans Musik schließlich im achtminütigen Daylight, dem stärksten Stück der Komposition: Es ist die Katharsis in Nosferatu: Wie im Stummfilm opfert sich Ellen für das Gemeinwohl auf. Die Streicher schwingen sich wunderschön wehklagend gen Himmel auf und führen die Qualen der jungen Frau zu einem traurigen Ende.

Solche Höhepunkte sind aber rar gesät, sodass sich zum separaten Hören eine deutliche Straffung empfiehlt (für eine circa 40-minütige Playlist: siehe unten). Carolan stellt seine Musik nämlich ganz in den Dienst des Filmes und macht es seinen Hörern damit wahrlich nicht leicht. Man muss im Hollywood-Kino schon lange suchen, um eine ähnlich kühle, zutiefst melancholische und Ausweglosigkeit verbreitende Vertonung zu finden. Ein leicht zugängliches Hörvergnügen bietet Nosferatu deshalb nicht. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, ob die Musik eine ähnliche Beachtung gefunden hätte, wäre sie für einen beliebigen Horrorfilm ohne den Namen Nosferatu und den Nimbus des Murnau-Stummfilms entstanden. Ja, der britische Komponist verleiht dem Stoff eine gewisse künstlerische Integrität, die sie von anderen, durchschnittlichen Horror-Vertonungen absetzt. Und gleichzeitig unterstützt sie die filmische Vision von Robert Erggers äußerst effektvoll. Doch für eine auch abseits der Bilder fesselnde Filmmusik zerfällt die Komposition zu sehr in ihre bildbezogenen Einzelteile. Dass sie sich so sehr auf das Erzeugen von Atmosphäre konzentriert, liegt womöglich auch daran, dass Eggers bei allem Stilbewusstsein die inhaltliche Ebene etwas aus den Augen verliert. Entsprechend bleibt auch die Musik bei aller morbider Faszinationskraft und vereinzelter starker Momente viel zu sehr in sich selbst gefangen.


Empfohlene Tracklist: 1. Once Upon a Time / 3. Premonition / 7. Goodbye / 10. Shrine / 11. A Carriage Awaits / 12. Come by the Fire / 23. Increase By Thunders / 19. Hysterical Spell / / 24. The Professor / 27. Dreams grow Darker / 31. A Return / 42. These Nightmares Exist / 44. Last Goodbye / 37. The First Night / 46. The Third Night / 48. Her Will / 49. Daybreak / 50. Liliacs / 51. Bound

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