Weite, sich bis an den Horizont erstreckende Landschaften. Üppige Viehherden, von hart arbeitenden Züchtern gehütet. Das könnte der wilde Westen im 19. Jahrhundert sein. Doch The Tundra within me spielt im norwegischen Sápme, in dem das Volk der Samen lebt, das seit Generationen die Zucht von Rentieren betreibt. Tradition besitzt hier noch einen großen Stellenwert. In den Kneipen wird der Joik gesungen, eine Art kehliger Jodelgesang, der mal in bierseliger Runde und mal als Klagegesang im Gedenken Verstorbener zum Besten gegeben wird. Es ist ein Ausgleich für den harten Arbeitsalltag. Der Konkurrenzdruck unter den Viehhirten ist groß, um die Weidegebiete wird gestritten. Viele geben deshalb auf und ziehen in die Großstadt, weil die Arbeit zu beschwerlich geworden ist und finanziell zu wenig einbringt.
So auch Lena, die einst ihre Herde verkauft hat und nach Oslo zog. Für ein Kunstprojekt kehrt sie mit ihrem Sohn nach vielen Jahren wieder in die Heimat zurück. Hier lebt noch ihre Mutter, die den Werdegang der Tochter aber argwöhnisch betrachtet. Mit offenen Armen wird Lena von den alten Weggefährten ohnehin nicht empfangen. Auf der Straße tuschelt man hinter dem Rücken über ihre Vergangenheit. Die Alten nehmen ihr übel, dass sie mit der Familientradition gebrochen hat. Selbst ihre Mutter kann wenig mit den abstrakten Bildern der Tochter anfangen, fragt schon einmal danach, wann sie denn endlich schöne Bilder zeichnen werde. Doch dann ist da noch der sanftmütige Máhtte, der die Rentierzucht von seiner Mutter übernehmen soll, aber unter dem Druck des Erbes und akuten Zukunftssorgen leidet. Lena und Máhtte verlieben sich ineinander. Einfacher wird die Situation beider dadurch aber nicht, denn Lena will eigentlich ihre Karriere vorantreiben und nach Oslo zurückkehren, während Máhtte damit hadert, ob seine Rentierherde überhaupt noch eine Perspektive hat.
Aus diesem nicht ganz neuen Konflikt zwischen Tradition und Moderne entwickelt sich in The Tundra within me eine unprätentiöse Love-Story mit Elementen des Neo-Westerns. Die einfühlsame Inszenierung zeigt dabei viel Verständnis für die unterschiedlichen Lebensentwürfe. So steht das Anliegen Lenas, in ihrer Kunst das Anliegen samischer Hirtinnen zu verarbeiten und Frauen in dieser von Männer-dominierten Branche zu stärken, dem verzweifelten Kampf Máhttes durchaus auf Augenhöhe gegenüber. Seine Herde aufzugeben, nur der Liebe wegen, erscheint für den Rentierzüchter nur mit naiv-romantischem Blick eine ernsthafte Option. Denn damit würde er zu einem gewissen Grad sich selbst verleugnen und die eigene Entwurzlung riskieren. Und genau das wäre der Schritt, den Lena bereits gegangen ist und im Grunde ihres Herzens zutiefst bereut.
Die Multidimensionalität angesichts dieses großen Dilemmas ist eine der großen Stärken von Sara Margrethe Oskals Film, der sich nie in einfache Lösungen flüchtet. Jede Figur hat hier ihr Päckchen zu tragen, hadert mit der Gegenwart und den Geistern der Vergangenheit. Máhttes ständig defekter Motorschlitten wird zur perfekten Metapher für ein ins Stottern geratenes Leben, das nicht so richtig auf die Sprünge kommt. Eindrucksvoll fängt die Kamera dazu die endlosen schneebedeckten Weiten der Tundra ein, in denen spektakuläre Sonnenuntergänge ebenso zur Normalität gehören wie die faszinierenden Polarlichter in der Nacht. Für touristische Romantik ist hier aber keine Zeit. Dafür bleibt die Landschaft zu unwirtlich, das Leben zu hart. Dennoch hat die Tundra einen unverrückbaren Platz in den Herzen der Menschen, ob sie wollen oder nicht. Die anrührende Liebesgeschichte zwischen Lena und Mátthe gibt Hoffnung, dass Zukunft und Vergangenheit zu etwas nachhaltigem Neuem verschmelzen können.