In seiner nach wie vor brandaktuellen Rede „Die Fremden“ griff William Shakespeare bereits im Jahr 1604 das Schicksal von Flüchtlingen auf, appellierte für mehr Menschlichkeit im Umgang mit den Vertriebenen. Im Original heißt diese überlieferte Handschrift des berühmten Dichters The Stranger’s Case. Und genau das ist auch der Titel von Brandt Andersens Episodendrama, das auf der Berlinale 2024 seine Premiere feierte. Der Film beginnt mit einer Kamerafahrt durch die Skyline Chicagos, vorbei am Turm mit dem Schriftzug Trump – sicher kein Zufall. Wir sehen die syrische Radiologin Amira, die in einem modernen Krankenhaus arbeitet. Ein Zeitsprung ein paar Jahre zurück in das umkämpfte Aleppo: Amira kämpft im Bombenhagel um das Leben ihrer Patienten, als sie ein schwer verwundeter Soldat mit der Waffe bedroht. Die engagierte Ärztin hat jedoch Glück und kommt mit dem Leben davon. Eine schlimme, aufreibende Schicht geht damit zu Ende. Eigentlich hat sie an diesem Tag Geburtstag. Doch die Familienfeier währt nicht lange, das Haus ihrer Familie wird von einer Detonation völlig zerstört. Nur Amira und ihre Tochter werden aus den Trümmern gezogen. Sie fliehen unter abenteuerlichen Umständen aus dem Land.
Andersen erzählt in raffiniert miteinander verschränkten Episoden von fünf Familien, die der Bürgerkrieg in Syrien direkt oder indirekt miteinander verbindet. Da ist der Soldat Mustafa, der sich gegen seinen Befehlshaber wendet, der Schleuser Mahaba (Omar Sy), der an der türkischen Mittelmeerküste die Flucht via Schlauchboot organisiert, eine weitere Flüchtlingsfamilie und ein Kapitän der griechischen Küstenwache, der die Flüchtenden unter Einsatz seines Lebens aus dem Mittelmeer rettet. Brandt Andersen vermittelt die Geschichte dieser von Krieg und Flucht betroffenen Menschen mit einer furiosen inszenatorischen Wucht, die direkt in das Geschehen hineinzieht. Dies gelingt ihm durch einen präzisen Einsatz filmischer Mittel: Wenn zu Beginn die Bombe detoniert, dann machen die zugehörigen Soundeffekte die Explosion beinahe physisch spürbar. Kurz darauf filmt er Amira und ihre Tochter im Kofferraum eines Autos, das sie über die Grenze nach Jordanien bringen soll. Es ist ein klaustrophobisches Setting, bei dem der Zuschauer wie die beiden nie weiß, was draußen vor sich geht. An der Grenze wird das Fahrzeug gestoppt, plötzlich erklingen Schüsse. Das Drehbuch löst solche Spannungsmomente aber nicht sofort auf, sondern nähert sich ihnen in der nachfolgenden Episode aus anderer Perspektive, oft verbunden mit einer Rückblende. So erschließen sich komplette Zusammenhänge erst nach und nach. Es ist ein brillanter Kunstgriff, mit dem es Andersen gelingt, die Handlung mehrdimensional auszubreiten und damit die Situation der Flüchtenden besonders plastisch erfahrbar zu machen.
The Stranger’s Case wird so zu einem atemlos spannenden und kompromisslosen cineastischen Trip, der den Exodus aus Syrien so intensiv und aufwühlend erzählt, wie kein zweiter Film vor ihm. Natürlich ist das bisweilen auch etwas manipulativ. Spätestens wenn zum Finale aus dem Off Zbigniew Preisners Lacrimosa aus Requiem for my Friend erklingt, erzeugt das eine große emotionale Wucht. Doch Brandt Andersen schafft es so, die Flut erschreckender tagtäglicher Nachrichtenbilder und die zwangsläufig daraus resultierende Abgestumpftheit beim Publikum zu durchdringen. The Stranger’s Case ist deshalb ein Film, bei dem man sich wünschte, dass ihn möglichst viele sehen, Trump-Wähler in den USA genauso wie AFD-Anhänger in Deutschland. Gegen Ende wird eine Szene auf dem Mittelmeer mit einem abendlichen Dinner unter Freunden kontrastiert: Wenn dort die üblichen Stammtischparolen wie „Das Boot ist voll“, „Da kommen doch viele Terroristen rüber“ zu hören sind, ist das angesichts des vorher gesehenen an Absurdität und Lächerlichkeit kaum zu überbieten. The Stranger’s Case kommt angesichts aktueller Wahlergebnisse zum richtigen Zeitpunkt. Es ist ein erschütternder, virtuos komponierter Film, der auf überwältigende Weise daran erinnert, was Krieg und Flucht wirklich bedeuten. Eine Erinnerung, die wir angesichts gegenwärtiger politischer Diskurse offenbar dringend nötig haben.