Women Talking – Hildur Guðnadóttir: „Heilende Musik“

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Der metoo-Bewegung der letzten Jahre ist es zu verdanken, dass Fälle von systematischem sexuellen Missbrauchs immer seltener totgeschwiegen und unter den Teppich gekehrt werden. Auch wenn damit noch lange nicht alles gut ist, hat doch eine dringend notwendige gesellschaftliche Debatte und Sensibilisierung für das Thema eingesetzt, die sexuelle Übergriffe immer häufiger ans Licht bringt und ächtet. Mitten in diese Zeit fällt Sarah Polleys Diskursfilm und Debattenbeitrag Die Aussprache – Women Talking, für den sie 2022 den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch gewann. Der gleichnamige, dem Film zugrundeliegende, Roman greift einen besonders erschreckenden Fall auf, der unter Mennoniten, einer christlichen Freikirche, in Bolivien zwischen 2005 und 2009 viel Aufsehen erregte: Damals drangen Männer nachts in fremde Häuser ein, nutzten ein für Kühe bestimmtes Betäubungsmittel, um Frauen und Kinder gefügig zu machen und brutal zu vergewaltigen. Die meisten Opfer schwiegen, weil sie sich durch das Sedativum nur schemenhaft an die Übergriffe erinnern konnten. Zudem machte man ihnen glauben, sie würden sich alles nur einbilden oder es sei eine Strafe Gottes für ihre Sünden – ein veritables Gaslighting. Die Verbrechen flogen dennoch auf, weil ein nächtlicher Eindringling schließlich auf frischer Tat ertappt wurde und der Polizei seine und die Taten anderer gestand.

Im Roman von Miriam Toews, der die Handlung aus dramaturgischen Gründen nach Kanada verlegt, und noch mehr im Film von Sarah Polley findet allerdings eine seltsame Verkürzung dieser realen Ereignisse statt: Die Männer im Dorf bringen die Gewalttäter in die Stadt zur Polizei, um sie vor dem wütenden Lynchmob zu schützen. Auf dem Heuboden einer Scheune entspinnt sich nun eine Art Kammerspiel, bei dem die zurückgebliebenen Frauen in Abwesenheit ihrer Partner die Zukunft der Gemeinschaft diskutieren. Mehrere Optionen stehen zur Debatte: Sollen sie ihren Männern vergeben, um der von den religiösen Führern angedrohten Exkommunikation aus der Glaubensgemeinschaft zu entgehen? Innerhalb der Kommune für Recht und Freiheit kämpfen? Oder ist die einzige richtige Lösung, das Dorf endgültig zu verlassen? Weil eine demokratische Wahl kein eindeutiges Ergebnis liefert, werden die Mitglieder dreier Familien bestimmt, eine Entscheidung für die anderen zu treffen. Die Zeit drängt, denn schon am nächsten Tag werden die Männer zurückerwartet. Und so wird mit vielen Worten um das Für und Wider gerungen. Es entstehen anrührende Dialoge um Schuld und Vergebung, zu toxischen Rollenbildern, zu Fragen von Religion und Verantwortung. Da trifft die von Rachegedanken und Zorn erfüllte Salome (Claire Foy) auf die zurückhaltende Mariche (Jesse Buckley), die nach Aussöhnung sucht, während die nachdenkliche Ona (Rooney Mara) immer mehr zur Erkenntnis gelangt, dass ein Gehen alternativlos ist. Dass das fesselt, liegt am stark aufspielenden Ensemble: Allen voran Rooney Mara, Jessie Buckley und Claire Foy überzeugen mit ihrer großen Präsenz.

Das Problem ist nur: Eine solche Entscheidungsfindung fand in der Realität nie statt. Auch wenn einzelne Frauen als Konsequenz tatsächlich nicht mehr in die Kommune zurückkehrten oder verstoßen wurden, gab es zu keinem Zeitpunkt einen Entschluss aller Frauen, die Gemeinde geschlossen zu verlassen. Das ist auch kein Wunder, denn in Bolivien leben circa 50.000 Mennoniten. Allein in Manitoba, wo die Straftaten begangen wurden, wohnen 1800 Menschen. Auch wenn die Dunkelziffer größer sein mag, konnten damals neun von ihnen als Täter identifiziert werden. Eine singuläre Situation, in der die Frauen eines Dorfes in Abwesenheit der Männer hätten zusammenkommen können, um eine Wahl abzuhalten, wäre deshalb völlig undenkbar gewesen. Es ist allein eine Roman- bzw. Hollywood-Konstruktion, ein eigenwilliger Kunstgriff, um aktuelle feministische Diskurse in den Vordergrund zu rücken. Women Talking feiert nämlich über hundert Minuten Resilienz und Zusammenhalt starker „empowerter“ Frauen im Prozess der Selbstheilung, die letztendlich das schlimme Trauma und die patriarchalen Strukturen hinter sich lassen. Das ist legitim. Doch es stellt sich die Frage, warum der Film dafür ausgerechnet diesen singulären Fall mit seinem so speziellen Kontext als Ausgangspunkt nimmt.

Denn der echte Hintergrund wird so fast zwangsläufig zur unscharfen Kulisse. Zwar zeigt die Eingangsszene in deutlicher Anlehnung an die realen Vorkommnisse, wie der nächtliche Eindringling gefasst wird. Die spätere Diskussion der Frauen erweckt jedoch den Eindruck, als würden die Täter ausnahmslos aus den eigenen Reihen stammen oder zumindest von den eigenen Männern gedeckt werden. Ob nun wirklich alle Männer im Dorf pauschal als schuldig angesehen werden oder nun selbst diejenigen Frauen potenziell die Gemeinde verlassen sollen, deren Männer unbeteiligt waren, bleibt ebenso offen wie die Frage, mit welchem Recht diese wenigen Frauen über die Köpfe der anderen entscheiden dürfen. Auch für das diffizile, äußerst komplexe Lebensumfeld der Mennoniten, dem Kontext von strenger Gläubigkeit, religiöser Indoktrination, und der Unterdrückung von Sexualität zeigt der Film nur wenig Interesse.

Wie entrückt das von der Realität ist, verdeutlicht auch der Blick in die Gesichter der Frauen: keine Spur von den Strapazen der beschwerlichen Feldarbeit oder den unendlichen Qualen angesichts des noch frischen Traumas. Besonders absurd wirkt das, wenn zum einen gesagt wird, dass den Mädchen der Kommune verboten sei, lesen und schreiben zu lernen, die erwachsenen Frauen gleichzeitig aber erstaunlich reflektierte Debatten über die moralisch-ethischen Implikationen ihrer Lage führen. Von der schwierigen Situation echter Mennoniten in Bolivien könnte dies kaum weiter entfernt sein: In den streng religiösen Gemeinden wachsen die Frauen nämlich abgeschieden von der Außenwelt ohne große Schulbildung als Analphabeten auf. Sie sprechen ausschließlich einen deutsch-niederländischen Dialekt. Weil sie kein Spanisch lernen, besitzen sie in der bolivianischen Gesellschaft kaum eine Perspektive. Um Aussteigern zu helfen, wurden deshalb spezielle Auffangzentren eingerichtet. Wenn Women Talking also in schönen Bildern die Befreiung der Frauen zelebriert, wirkt das angesichts der realen Schicksale in Bolivien (siehe auch Quellen) wie ein blanker Hohn. Und das wird auch durch den Umstand nicht besser, dass die Handlung nach Kanada verlegt wurde, was wiederum die dort lebenden Mennoniten zu Unrecht in ein schlechtes Licht rückt (die in Wahrheit die genannten Auffangzentren in Bolivien mitfinanzieren).

Dazu passt auch, wie Sarah Polley das Bauernleben inszeniert: Die entsättigten Farben deuten zwar darauf hin, dass diese Welt – zumindest innerhalb der Filmlogik – der Vergangenheit angehört. Wie die Kamera aber das unbeschwert fröhlich-idyllische Treiben der Kinder auf den Feldern im Abendlicht einfängt, das produziert vor allem Klischeebilder. Besser schlägt sich da die pastorale, vom Gitarrenspiel und einem kleinen Streichorchester bestimmte Musik von Hildur Guðnadóttir (Joker, Chernobyl). Sie lässt die schlimmen Vergewaltigungen im Sinne der Neuanfang-Dramaturgie schnell hinter sich und richtet den Blick vorwärts: Während sie anfangs bei den Rückblenden kühl-klirrende Glocken (I saw him, Work of Ghosts) einsetzt, um das lähmende Entsetzen angesichts der Verbrechen zu spiegeln, wechselt sie danach wie der Film in einen positiv-optimistischen Grundton über. Sie begleitet das feministische Aufbruch-Narrativ mit einer einfachen versöhnlichen Melodik, die für ihr bisheriges Werk äußerst untypisch ist. Stücke wie Speak Up legen mit ihrem melancholisch-gleichmütigen Gitarrenspiel einen behaglichen Klangmantel um die Wunden der Vergangenheit, der sich im Finale (Leaving) beim Aufbruch des Trecks durch die Streicher mit subtilem Pathos überhöht. Nur einmal wird es düster: Die Rückkehr einer der Männer begleitet das spröde kammermusikalische He’s here – ein scharfer Kontrast, der noch einmal androht, was den Frauen blüht, sollten sie sich entschließen, zu bleiben. Doch das ist natürlich keine ernsthafte Option. Wie Hildur Guðnadóttir die vielfältigen Stimmungsbilder und Nuancen der Handlung auslotet, das hat etwas sehr Feinfühliges und entwickelt – wenn man so will – auch eine heilsame Kraft, die gut zu den zentralen Themen von Aussöhnung und Selbstermächtigung passt. Es ist eine sympathische, unprätentiöse Musik der Isländerin, die im Grunde subtiler und präziser ist, als die Vorlage selbst. Vielleicht Hildur Guðnadóttir zugänglichste und klangschönste bislang. Man hätte sich dazu nur einen besseren, einen differenzierteren Film gewünscht, der den realen Fall entweder ernst nimmt oder sich gänzlich von ihm löst.


Quellen:

The rapes haunting a community that shuns the 21st Century (https://www.bbc.com/news/stories-48265703)

The Ghost Rapes of Bolivia( https://www.vice.com/en/article/4w7gqj/the-ghost-rapes-of-bolivia-000300-v20n8)

Eight guilty in Bolivia rape trial (https://anabaptistworld.org/eight-guilty-in-bolivia-rape-trial/)

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