Starke Statements in Zeiten der Veränderung – Das Braunschweig International Filmfestival 2016

Die Zeichen stehen auf Veränderung: Auch das Braunschweig International Filmfestival sieht sich einem massiven Umbruch in der Medien- und Kinolandschaft gegenüber. Auch wenn bei Ausgabe Numero 30 im vergangenen November viel Bewährtes auf dem Programm stand, gab es im Detail doch die ein oder andere Veränderung, die den neuen Medien Rechnung trägt: Neben der Smartphone-App, die dem Besucher die Programmauswahl erleichtert, werden ab sofort auf der eigenen Homepage Festivalfilme der vergangenen Jahre im Streaming-Format angeboten. So kann einmal verpasstes bequem im heimischen Wohnzimmer nachgeholt werden. Das Festival entfernt sich auf diese Weise vom rein singulären Event und hilft zugleich jungen Filmemachern, von einem größeren Publikum wahrgenommen zu werden.  Doch solche Maßnahmen ändern natürlich nichts daran, dass Filme auch weiterhin im Dunkeln des Kinos am besten wirken.

Und von stark wirkenden Filmen gab es auch in diesem Jahr in Braunschweig so einige zu sehen: Der niederländische Wettbewerbsbeitrag The Paradise Suite erzählt etwa in kunstvoll ineinander verwobenen Episoden von Menschen am Rande der Gesellschaft, deren Schicksale sich in der Hauptstadt Amsterdam kreuzen: Eine junge Bulgarin gerät ebenso in die Fänge von Menschenhändlern wie ein „illegaler“ Afrikaner, der in einem Blumengroßhandel arbeitet. Ein kleiner Junge leidet unter dem Erwartungsdruck seiner Eltern und eine ältere Frau versucht, einen serbischen Kriegsverbrecher dingfest zu machen. Das eindringliche Drama von Joost van Ginkel entwirft diese Geschichten mit großer Präzision und Symbolkraft, scheut dabei auch nicht davor zurück, mit schier unerträgliche Szenen an die Schmerzgrenze seiner Zuschauer zu gehen. Völlig verdient wurde The Paradise Suite in diesem Jahr mit dem Publikumspreis, dem Heinrich, ausgezeichnet. Weitere Preise für das Lebenswerk gingen an den Schauspieler Brendon Gleeson und den filmmusikalischen Ehrengast Patrick Doyle, der mit dem neu eingeführten weißen Löwen prämiert wurde.

Gesellschaftspolitisch engagierte Filme, die Stellung beziehen, bildeten einen Schwerpunkt des Festivals 2016. Die im vergangenen Jahr neu eingeführte „Beyond“-Reihe stand dieses Mal unter dem Motto „War on everyone“. Gezeigt wurden mutige wie radikale Filme, die größtenteils in den Krisenregionen dieser Welt spielen: Die norwegische Dokumentation Ambulance begleitet einen Tag lang einen Krankenwagen bei Einsätzen während des Krieges 2014 in Gaza Stadt. Im klaustrophobischen ägyptischen Drama Clash von Mohamed Diab werden Muslimbrüder, Journalisten und Anhänger der Armee bei den Ausschreitungen 2013 zusammen in einen Gefängniswagen eingepfercht. Der beklemmende Film beeindruckt durch seine konsequent eingehaltene Perspektive: Die Kamera verlässt nie das Innere des Wagens. Die Auseinandersetzungen der verschiedenen Gruppierungen spiegeln raffiniert die innenpolitischen Konflikte der ägyptischen Gesellschaft. Als bester Film der „War on everyone“-Reihe wurde das iranische Drama Lantouri von Reza Dormishian ausgezeichnet. Darin porträtiert der Regisseur eine Gang, die in Teheran auf offener Straße Menschen ausraubt.

Nahe am Puls der Zeit befindet sich das Festival auch mit der aufregenden Sektion „Sound on Screen“. Die präsentiert faszinierende Musikdokumentationen: Stephen Kijak porträtiert zum Beispiel in We are X die japanische Metal-Band X Japan um den charismatischen Frontmann Yoshiki. In ihrer Heimat feiern X Japan seit den 80er-Jahren Riesenerfolge. Sie füllen Stadien und werden geradezu kultisch verehrt. International sind sie außerhalb der Anime-Szene aber nahezu unbekannt. Dieser Widerspruch macht den Reiz der schillernden Dokumentation aus. Nicht weniger faszinierend ist Luke Meyers Film Breaking a Monster, der drei Teenager einer Heavy-Metal-Band bei ihrem Weg in die Musikindustrie begleitet. Nach einem millionenfach geklickten youtube-Video wurde Sony auf die Band und ihr immenses Potenzial aufmerksam. Ein unglaublicher Millionendeal soll die Band an das Label binden und ein Manager die aufgeweckten Kids bei ihren ersten Auftritten bis zu den Plattenaufnahmen coachen. Ganz nebenbei erzählt Breaking a Monster von den Mechanismen der Musikindustrie, der gigantischen Marketing-Maschinerie, die das „Produkt Musik“ heute stets begleitet.

Eine Herausforderung für das Braunschweiger Publikum bot das Filmkonzert zur Festivaleröffnung in der Stadthalle: Auf dem Programm stand Laurence Oliviers berühmte Shakespeare-Adaption Henry V von 1944 mit der Oscar-nominierten Musik von William Walton. Das fast zweieinhalb-stündige Drama wurde im Original mit Untertiteln gezeigt. Doch viele Zuschauer hatten große Schwierigkeiten, den rasanten englischen Dialogen mit manchmal sogar dreizeiligen Untertiteln zu folgen – zumal die historische Tonspur den Zugang altersbedingt nicht gerade leichter machte. Da konnte auch die wunderbare festliche Filmkomposition Waltons nur wenig retten. Der Film besitzt nämlich kaum mehr Musik als die auf CD erhältliche einstündige Konzertfassung. So konnte man mehr von feinen musikalischen Oasen als einem vollmundigen Filmkonzert sprechen. Das ist natürlich insbesondere schade, als dass Waltons Musik eigentlich zu den Klassikern der Filmmusikgeschichte gehört und auch das Braunschweiger Staatsorchester unter seinem routinierten Dirigenten Helmut Imig gewohnt tadellos aufspielte. So machte das Eröffnungskonzert bei allen Qualitäten am Ende doch einen etwas unglücklichen Eindruck und wurde in der Lokalpresse dementsprechend  kontrovers diskutiert.

Wie eine beschwingte, reizvolle Eröffnung hätte vielleicht auch aussehen können, zeigte hingegen das Stummfilmkonzert zur Komödie  It – Das gewisse Etwas, welches ein paar Tage später in den Braunschweiger Schlossarkaden stattfand. Niemand Geringeres als Patrick Doyle hatte für den Stummfilm von 1927 (ursprünglich für das Filmfestival in Syrakus) 2013 eine neue Musik für eine kleine Orchesterbesetzung komponiert. In Braunschweig präsentierte Doyle höchstpersönlich nun eine überarbeitete Fassung seiner Komposition. Der charmante Film selbst handelt vom ersten „It“-Girl (Clara Bow) der Kinogeschichte, das sich über Umwege den Erben eines Kaufhauses angelt. Doyle illustriert die Handlung mit eingängiger Melodik, wie man sie aus seinen besten Kompositionen kennt. Das Hauptthema ist ein kleiner Ohrwurm, den er raffiniert durch die Stimmungen der Handlung trägt.  Das Klavier setzt Doyle dabei als tragendes Begleitinstrument ein – gewissermaßen eine Reverenz an die Ära des klassischen Stummfilms. Das Spiel der Streicher mit ausschwingenden Melodien und reizvollen Pizzikati orientiert sich hingegen an modernen Komödien-Standards und trägt den Film damit auf raffinierte Weise in unsere Zeit. Die Mischung stimmte: Die verzückende Melodik, das präzise Timing und der kristallklare Klang der Musik verzauberten das Publikum. Und so hatte dieser Konzertabend genau „das gewisse Etwas“, welches dem Festival-Auftakt zuvor ein wenig abgegangen war.

Patrick Doyle stand – das hat beim Filmfestival in Braunschweig gute Tradition – dem interessierten Publikum auch zu einem Werkstattgespräch zur Verfügung, in dem er von Gary Yershon (Mr. Turner) interviewt wurde. Doyle ließ anekdotenreich seine Karriere Revue passieren, sprach von seinen Anfängen als Chorsänger sowie als Schauspieler in der Shakespeare Company um Kenneth Branagh. Kurios muss die Spotting-Session (bei der der Musikeinsatz im Film diskutiert wird) bei Brian DePalmas Gangsterfilm Carlito’s Way (1993) abgelaufen sein: Die Anweisungen des Regisseurs seien so knapp wie präzise gewesen: „Musik – keine Musik – Musik – nächste Szene“. Im Remake vom Planet der Affen sollte Doyles Musik eigentlich abgelehnt werden. Der Komponist wehrte sich beharrlich dagegen und setzte sich schließlich durch. Die Musik blieb im Film. Am Ende entschuldigten sich die Produzenten sogar schriftlich beim Schotten: „Sie hatten recht und wir waren im Unrecht“. Das Poster mit dieser Aufschrift soll nun angeblich bei Doyle an der Wand hängen.  Anders als die meisten anderen Filmkomponisten gab er auch zu, bei Gelegenheit bewusst Musik zu schreiben, die nicht nur in der jeweiligen Szene funktioniert, sondern auch als eigenständige Musik bestehen kann wie z.B. der Choral „Faith of our Fathers“ in Branaghs Agententhriller Jack Ryan – Shadow Recruit (2014). „Wenn die Gelegenheit sich bietet, warum solle man sie dann nicht nutzen?“ – so Doyle. Aufschlussreich auch sein Blick auf die aktuelle Filmmusik-Szene: Aus Angst vor Misserfolg mangele es vielen Produzenten an Mut zur Emotionalität und klaren musikalischen Statements. Dies sei ein Umstand, der sich seiner Meinung nach vor allem auf die Langzeitwirkung der Filme negativ auswirken würde.

Mit Stargästen wie Patrick Doyle und Brendan Gleeson, spannenden Filmkonzerten und einem gewohnt reichhaltigen Filmprogramm konnte das Braunschweiger Festival auch in seinem Jubiläumsjahrgang wieder viele Zuschauer in die Kinos bzw. Konzertsäle locken. Und auch wenn die Konkurrenz der Streaming-Portale ernst zu nehmen ist und sich die Kinolandschaft radikal verändert: Die besondere familiäre Atmosphäre des Festivals und die Begegnung mit Filmschaffenden und anderen Filminteressierten sind durch nichts zu ersetzen.  Bleibt nur zu hoffen, dass dies auch vom Braunschweiger Publikum noch ganz lange genauso empfunden und wahrgenommen wird.