The Girl without a Name: „Das fehlende Puzzlestück“

Ein verhängnisvoller Abend im Jahr 2008: Als Catherine (Cécile de France) mit ihrem betrunkenen Partner von einem Restaurantbesuch zurückkehrt, bricht zwischen beiden ein heftiger Streit aus, in dem er sie in seiner Rage heftig attackiert. Die junge Marion geht dazwischen, um ihre Mutter zu schützen und sticht dem Mann mehrfach mit einer Schere in den Rücken, bis dieser blutüberströmt zusammenbricht. In ihrer Panik rennt Marion von zu Hause weg, während ihre kleine Schwester Jeanne zurückbleibt. Unterschlupf findet sie bei ihrem leiblichen Vater, der seine Kinder aber eigentlich nicht sehen darf. Zusammen mit ihm taucht sie unter, wechselt die Identität und zieht nach Brüssel. Fünfzehn Jahre später findet Marion, die jetzt Louise heißt und nach dem Tod des Vaters bei Pflegeeltern aufgewachsen ist, ihre Schwester bei Facebook wieder. Sie spricht Jeanne, die als Sängerin durch die Clubs tingelt, bei einem ihrer Konzerte in Brüssel an. Die Schuld der Vergangenheit und der Druck des jahrelangen Versteckspiels lasten aber so quälend auf ihrer Seele, dass sie sich nicht traut, ihre wahre Identität Preis zu geben. Zu groß ist ihre Angst, nicht willkommen zu sein. Und so schlägt sie der Musikerin vor, als Journalistin ein Porträt über sie schreiben.

Nicolas Keitel gelingt es in seinem berührenden Kinodebüt, die Geschichte der gewaltsam auseinander gerissenen Familie zwar melodramatisch, aber mit großem Fingerspitzengefühl zu erzählen. Was leicht in sentimentalen Kitsch hätte abgleiten können, funktioniert hier nicht zuletzt dank des großartigen Darstellerensembles. Vor allem Diane Rouxel begeistert mit ihrem nuancierten Spiel als Marion/Louise. Allein der Blick in ihr gezeichnetes Gesicht vermittelt viel vom durchlittenen Schmerz, den quälenden Schuldgefühlen und den lange gehorteten Geheimnissen, die ihr Leben belasten und zu einem Stillstand gebracht haben. Als Zuschauer leidet man förmlich mit, weil Marion in ihren Selbstzweifeln nicht sieht und vielleicht auch nicht sehen kann, wie sehr sie von ihrer Familie vermisst wird und welche Lücke ihr Fehlen gerissen hat. Keitel inszeniert dazu mit einer bemerkenswerten Beobachtungsgabe, die selbst feine Nuancen einfängt. So gibt es in der ersten Wiederbegegnung mit Catherine, die glaubt, Marion sei bei einem Brand ums Leben gekommen, durchaus einen kurzen Moment des gegenseitigen Erkennens. Doch dem nachzuspüren gestattet sich Catherine nicht, weil sie durch den vermeintlichen Tod der Tochter eigentlich längst mit der Vergangenheit abgeschlossen hat.

Natürlich mag man hier und da fragen, ob die Geschichte wirklich vollständig schlüssig ist, ob Louise als Erwachsene die Version, die ihr Vater von den Ereignissen erzählt hat, nicht schon viel früher infrage gestellt und sich auf die Suche begeben hätte. Auch ist schwer vorstellbar, dass ein Kind, das eine staatliche Schule besucht, dennoch über viele Jahre unauffindbar bleiben kann. Doch Keitel weiß genau, welche Knöpfe er drücken muss, um die beabsichtigte filmische Wirkung zu erzielen und inszeniert derart souverän, dass solche Fragen schnell in den Hintergrund rücken. Zu großartig ist die Chemie zwischen den drei Hauptfiguren, so anrührend die Inszenierung, dass man sich gerne auf den besonderen Sog der einfühlsamen Erzählung einlässt. Und wenn dann gegen Ende der heilende Moment gekommen ist, in dem Louise ihrer Schwester in einem Club ohne Worte endlich offenbart, wer sie wirklich ist, gelingt ein erfüllender Moment seltener Kinomagie, bei dem wohl fast jeder Zuschauer zu den Taschentüchern greift.

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