Carrie – Pino Donaggio: „Der Schatten von gestern“

Mit seinem ersten veröffentlichten Horror-Roman Carrie gelang Stephen King 1974 unmittelbar der Durchbruch. Und auch für den Regisseur Brian De Palma erwies sich das Buch als Glücksfall. Als er es nur zwei Jahre später verfilmte, revolutionierte er damit nicht nur das Horrorkino, sondern landete zugleich einen großen Erfolg an den Kinokassen. Einer mit Folgen: Denn es war die erste von bis heute (Stand: 2025) über 90 Stephen-King-Verfilmungen. Doch das konnten King und De Palma Mitte der Siebziger natürlich kaum ahnen, als sie die Story der siebzehnjährigen Schülerin Carrie erzählten und mit ihr einige Tabus brachen: Das junge Mädchen (Sissy Spacek) lebt zusammen mit seiner erzkonservativen Mutter (Piper Laurie), einer religiösen Fanatikerin, die jede Form von Sexualität für schmutzig hält, unter einem Dach. Aufgrund ihrer Weltfremdheit und Schüchternheit wird Carrie an der High School von ihren Mitschülerinnen gemieden und ausgeschlossen. Brian De Palma etabliert dieses Setting mit zwei bemerkenswerten Eingangszenen. Der Film beginnt mit einem harmlos erscheinenden Volleyball-Spiel – ein lebhaftes Schultreiben. Dann kommt der Ball zu Carrie, die durch ihr mangelndes Selbstvertrauen in der Situation überfordert ist und zum Unmut ihrer Mannschaft, den Ball wegspringen lässt. Die zweite Szene ist in die Filmgeschichte eingegangen: Wir sehen die Mädchen in der Umkleidekabine, beim Duschen. Doch was sich zunächst unangenehm voyeuristisch anfühlt, wandelt plötzlich radikal den Charakter: Carrie bekommt unter der Dusche ihre erste Periode. Da sie von ihrer Mutter nicht aufgeklärt wurde, reagiert sie völlig panisch und sucht Hilfe bei den anderen Mädchen. Doch die verspotten sie nur und bewerfen sie mit Binden.

Carrie war mit dieser Eingangsszene einer der ersten Hollywoodfilme, die das Thema Menstruation auf der großen Leinwand zeigten. Zwar muss man relativieren, dass De Palma diese Szene sicher auch als Schockeffekt eingesetzt hat, um das Publikum aus der Komfortzone zu holen – Carrie entdeckt in diesem Moment zudem ihre telekinetischen Fähigkeiten. Doch bemerkenswert und effektvoll ist dieser Filmeinstieg selbst heute noch. Auch in anderer Hinsicht war Carrie bahnbrechend, gilt nämlich als einer der ersten Highschool-Filme überhaupt, die das Thema Mobbing aufgriffen. Dabei erzählt De Palma eindringlich davon, was es wirklich bedeutet, eine gemiedene Außenseiterin zu sein, die von allen anderen malträtiert wird, und welche Mechanismen fast immer dazugehören: So lässt sich selbst die Lehrerin in einem schwachen Moment dazu verleiten, Carrie anzuschreien, sie solle sich doch zusammenreißen. Als sie ihren Fehler einsieht und die Übeltäterinnen bestraft, lassen diese ihre Wut wiederum an Carrie aus. Besonders bemerkenswert ist der Schockeffekt, wenn Carrie auf der Bühne des Abschlussballs von einem Kübel Schweineblut übergossen wird. In diesem Moment des Schocks und tiefster Demütigung halluziniert sie, dass die Menschen im Saal sie verhöhnen und auslachen, während alle, die ihr eben noch gerührt Beifall klatschten, in Wahrheit völlig fassungslos sind. De Palma dringt tief in die vielschichtige Psychologie von Opfern und Tätern ein. Dass Carrie es bei ihren Mitschülerinnen schwer hat, ist aufgrund ihrer Weltfremdheit durchaus nachvollziehbar, und auch das Verhalten der Mutter entspringt einem eigenen Trauma, das sie in ihrem Wahn an ihre Tochter weiterreicht. Diese Verkettung und Vererbung des Toxischen wird zum Katalysator einer verheerenden Katastrophe, die sich für den Zuschauer in Carrie lange ankündigt, aber am Ende doch – wie jede Gewalteskalation – ganz anders verläuft, als es die Mitschülerinnen eigentlich geplant haben.

Zusammen mit dem großartigen Film ist auch die Musik von Pino Donaggio in die Kinogeschichte eingegangen. Der Italiener hatte drei Jahre zuvor mit Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) seinen großen Durchbruch gefeiert und Carrie war die erste Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Komponist. In De Palmas vorigen Filmen, Sisters und Obsession, hatte noch Bernard Herrmann die Musik geschrieben, und war darum auch für Carrie fest eingeplant. Doch Scorseses Taxi Driver (1976) sollte leider seine letzte Musik werden. Kurz nach Ende der Aufnahmesessions verstarb der Maestro. De Palma musste sich nach Ersatz umsehen, und fand ihn recht schnell im damals 35-jährigen Donaggio. Der resultierende musikalische Neuanfang ist allerdings ein sehr kurioser, denn Herrmanns Schatten schwebt deutlich über der ersten Stephen-King-Verfilmung. De Palma hatte nämlich die Musik zu Hitchcocks Psycho als Temp-Track verwendet und empfand diesen als äußerst effektvoll. So ist im finalen Film immer noch viel „Herrmann“ zu hören: In der Szene, in der Carrie zu Hause den Spiegel zerstört, zitiert Donaggio das berühmte Streicher-Stakkato der Duschszene aus Hitchcocks Psycho – ein angesichts der Berühmtheit ziemlich irritierendes Zitat. Doch völlig unpassend ist dieser Kunstgriff nicht, denn schließlich geht es in beiden Filmen um übermächtige Mutterfiguren, die alles Unheil auslösen. Herrmann ist als stilistisch prägendes Vorbild in beinahe allen streicherbetonten Spannungspassagen präsent, besonders deutlich in The Slaughter oder beim Finale zu The Nightmare, wo nochmals ein direktes Psycho-Zitat erklingt.

Doch natürlich gibt es in Carrie auch eigenes Material Donaggios ohne direkten Herrmann-Bezug. Das lyrische Carrie-Thema, eine etwas verklärt anmutende Streichermelodie mit Querflöte, greift geschickt die Verträumtheit und Naivität der Außenseiterin auf. Dabei orientiert es sich im Easy-Listening-Idiom ein klein wenig an den romantischen Melodien, wie sie Ennio Morricone in den 70er Jahren oft Frauenfiguren beiseitestellte. Es bleibt nicht der einzige Verweis auf den Zeitgeschmack. Insbesondere die spöttischen Funk-Einlagen in der Sportstunde oder beim Anprobieren der Tuxedos brechen mit der ansonsten düster-melancholischen Grundstimmung. Zur großen Prom-Night erklingen dann noch zwei von Kate Irving gesungene Popnummern. Und wenn schließlich die Turnhalle in Flammen aufgeht, spielt Donaggio effektvoll mit elektronischen Klangeffekten. Das rhythmische Klavierostinato für die toxische Beziehung zwischen Carrie und ihrer Mutter erinnert dazu an typische Giallo-Filme der frühen Siebziger oder spätere Slasher des US-Kinos – und hat entsprechend seinen großen Auftritt, wenn die fanatische Mutter mit dem Messer auf ihre Tochter losgeht. Sehr prägnant ist das sakrale Orgelthema, das zum ersten Mal zu hören ist, als Carrie aus der Schule kommt (And god made Eve), und später wieder aufgegriffen wird, als die blutüberströmte Carrie nach dem Feuer wieder das eigene Haus betritt (Mother at the top of the Stairs, ab 1:15 Min.).

In fast allen Szenen ist die Musik äußerst charismatisch und passt nahezu perfekt. Doch anders als bei den Filmmusiken Bernard Herrmanns mangelt es bei Donaggio an einer konsistenten Tonalität und einem runden dramaturgischen Bogen. So stark die einzelnen Themen und szenenbezogenen Akzente sind, so abrupt und fast ein wenig ungelenk wechselt der italienische Komponist zwischen den unterschiedlichen Stilelementen. Ohne Bilder funktioniert Donaggios Beitrag deshalb nur in Ansätzen. Für den Film erweist sich die irritierende Wechselhaftigkeit seiner Musik aber dennoch als Gewinn, weil die kontrastierenden Stimmungen ausgezeichnet das Erwachsenwerden der Jugendlichen mit all ihren Unsicherheiten und Gefühlsschwankungen abbilden. Da prallen jugendliche Lebensträume auf bisweilen grausame Lebenswirklichkeiten. De Palma verpackt den schwierigen Prozess des Heranwachsens in symbolträchtige Bilder. Carries telekinetische Fähigkeiten werden zu einer perfekten Metapher für ihre Selbstermächtigung und Rebellion. Und vielleicht sollte man Pino Donaggios Komposition mit ihren Zugeständnissen an die Popkultur der 70er Jahre auch als eine Art Auf- und Umbruch werten. Sicher wäre es spannend gewesen, zu hören, was Bernard Herrmann aus diesem Stoff gemacht hätte. Doch darüber zu spekulieren, ist müßig, denn Donaggio hat mit seiner Arbeit gewissermaßen eine eigene, neue Ära eingeläutet.

Diskografische Notizen

Carrie wurde seit dem Entstehungsjahr inzwischen mehrfach veröffentlicht. Die originale, nichtchronologische LP (1997 mit zusätzlichen Dialogen von Rykodisc und 2005 von Colosseum Records auf CD wiederveröffentlicht) bietet die zentralen Themen, legt aber einen etwas zu starken Fokus auf die Songs. Erstmals komplett gab es Donaggios knapp einstündige Musik erst 2010 bzw. 2013 von Kritzerland Records in streng limitierten Auflagen. Während die erste Version als Doppel-CD noch das alte LP-Programm enthielt, bestand die jüngste Fassung nur noch aus der ersten CD. Leider sind jedoch alle Fassungen derzeit nur noch gebraucht zu bekommen.

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