Tag 1: Das spanische Schneewittchen

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Das 27. Filmfest ist ein besonderes, weil es das letzte von Festivalleiter Volker Kufahl sein wird, der ab dem kommenden Jahr in Schwerin eine neue Aufgabe als Geschäftsführer der Filmland GmbH Mecklenburg-Vorpommern übernimmt. Es wird spannend sein zu sehen, wie sich das Filmfest in den kommenden Jahren weiter entwickelt, denn Kufahl hat das Festival wie kein zweiter geprägt.

Doch zurück zum diesjährigen Programm, welches mit dem Eröffnungsfilm Blancanieves von Pablo Berger als Filmkonzert am Dienstagabend gleich mit einem Highlight startete. Es gehört zur guten Tradition, dass bereits am frühen Abend das Filmprogramm beginnt. Einer der hier gezeigten Filme war die launige Sommerkomödie Schwestern aus Deutschland.

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Schwestern (Deutschland 2013)

Die junge Katherina hat sich entschieden, ihr Leben Gott zu weihen und in ein Kloster zu gehen. Ihre Familie, die mit Religion nur wenig am Hut hat und sich nicht damit nicht abfinden kann, findet sich zum Gottesdienst ein, in dem die angehenden Novizinnen ihr Gelübde ablegen sollen. Als es zu einer unerwarteten Pause in der Zeremonie kommt, trifft man sich im Grünen zum Picknick. Alte Konflikte brechen auf und jedes Familienmitglied muss sich in eigenen Leben angesichts Kathis ungewöhnlicher Lebenswahl positionieren.

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Meret Becker und Marie Leuenberger in Schwestern

Im Stil der französischen „comédie humaine“ inszeniert Anne Wild diesen Stoff mit leichter Hand. Vor allem die nicht überzeichneten Figuren und Konflikte nehmen für ihren Film ein. Ob Katherinas Schwester (Maria Schrader), die mit ihrem eigenen Leben hadert, die von Selbstzweifeln geplagte Mutter oder das von Alltagssorgen mit zwei Kindern gestresste Ehepaar – als Zuschauer kann man ihre Sorgen und Nöte nachempfinden. Leider zerfasert das Drehbuch in der zweiten Hälfte, erzählt zu viele Geschichten parallel, um ihnen ausreichend Tiefe verleihen zu können. Ein Unwetter als filmische Katharsis wirkt dabei ebenso aufgesetzt wie der Versuch, dadurch Spannung zu erzeugen, dass ein Kind und ein Babyfon verloren gehen. Ebenso erscheint es schade, dass die Inszenierung Katherina ein Gesicht geben muss, wo doch eigentlich nicht ihre Geschichte, sondern die ihrer Familie erzählt wird.

Kurzum: das im Grunde reizvolle Drehbuch hätte noch etwas Feinschliff verdient gehabt oder andersherum gesagt: Die Produzenten hätten gut daran getan, der Einfachheit ihrer Handlung zu vertrauen und sie nicht durch unnötige Kunstgriffe zu verwässern. Vielleicht ist diese Kritik angesichts der poetischen Leichtigkeit der „Dramödie“ aber auch etwas zu streng. Für einen charmanten, unterhaltsamen Kinoabend taugen Anne Wills Schwestern allemal.

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Blancanieves (Spanien 2012)

Der zeitgenössische Stummfilm lebt. Diesen Eindruck kann man inzwischen durchaus gewinnen. Nach dem mehrfach Oscar-gekrönten The Artist (im Vorjahr in Braunschweig live aufgeführt), sorgte in Spanien nun Blancanieves für Furore. „Blancanieves“ ist schlichtweg die spanische Übersetzung von „Schneewittchen“, doch Pablo Berger erzählt in seinem in schwarz-weiß gedrehten Stummfilm nicht einfach das Grimmsche Märchen nach. Er verlegt es in das Spanien der zwanziger Jahre (und damit natürlich nicht zufällig in die Ära der großen Stummfilme) in das Milieu der Stierkämpfer. Schneewittchen heißt eigentlich Carmen und ist Tochter eines berühmten Toreros, der nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist. Ihren Namen erhält sie erst später von den Zwergen: „Wir nennen Dich Schneewittchen – wie im Märchen“ sagt einer von ihnen. Und damit hat Pablo Berger auch raffiniert die Relation zur grimmschen Vorlage herausgearbeitet. Sein Blancanieves nimmt Motive der Urgeschichte, wandelt sie ab und versieht sie am Ende sogar mit einer gänzlich überraschenden Wendung.

Mittels der drei Kunstgriffe Milieu/Stummfilm und Variation der Märchenhandlung gelingt Pablo Berger eine wundersame Neuverfilmung. Sein Schneewittchen ist ein durch und durch spanisches Schneewittchen geworden, an dem die Musik von Alfonso de Villalonga großen Anteil hat. Die mit dem spanischen Filmpreis, dem Goya, prämierte Vertonung orientiert sich an den neoklassizistischen Stummfilmmusiken der zwanziger Jahre, die er reizvoll mit der spanischen Musiktradition und hier und da Einflüssen aktueller Kinosinfonik verwebt. Neben der Originalmusik fallen noch eigens für den Film arrangierten Flamencostücken eine besondere Bedeutung zu: Sie stehen im Film für Carmens Wurzeln und ihre Herkunft. Das Ergebnis überzeugt und begeistert. Alfonso de Villalonga ist eine Filmmusik gelungen, die sich vor The Artist nicht verstecken muss, vielleicht sogar noch eine Spur thematisch prägnanter und eigenständiger ausfällt.

Das Staatsorchester Braunschweig hat mittlerweile ein gutes Händchen für Stummfilmkonzerte. Mit präzisem Timing und exzellentem Spiel begeisterte das Orchester das Publikum in der fast ausverkauften Braunschweiger Stadthalle. Alfonso de Villalonga, der die Bühne ebenso schätzt wie das Schreiben von Musik, hatte daran seinen Anteil. Der Komponist spielte mit Ukulele, Akkordeon und Klavier gleich drei Instrumente selber. Und spätestens bei der Zugabe mit einem der Flamencostücke aus dem Film wehte mehr als ein Hauch Spanien durch den Saal.