Fairytale Mumblecore: Blind & Hässlich

Es gibt gewisse Spielregeln im Kino: Die Ausstattung eines Filmes hat möglichst authentisch zu sein, Figuren müssen sich ihrer Rolle entsprechend glaubwürdig verhalten. Das Milieu, in dem die Handlung spielt, nach bestem Gewissen präzise gezeichnet. Wenn nicht, dann hagelt es erboste Kritiken. Es sei denn man befindet sich im verrückten Mumblecore-Universum von Blind & Hässlich. Mumblecore, das ist jene noch recht frische Spielart des deutschen Kinos, in der das Drehbuch die Richtung der Handlung nur grob vorgibt und sich der Rest durch Improvisation am Set ergibt. Wunderbare Filme wie Staub auf unseren Herzen, Beat Beat Heart und Tigergirl haben dieses Subgenre nach amerikanischem Vorbild in den letzten Jahren in Deutschland etabliert.

Blind & Hässlich entwickelt den Mumblecore in Richtung eines spleenigen, märchenhaften Tonfalls weiter, in dem alles erlaubt ist, was Spaß macht. Im Mittelpunkt der Handlung steht der suizidgefährdete Ferdinand, den die junge Jona, die ihr Abi geschmissen hat, mit einem irrsinnigen Einfall vor dem Sprung von einer Eisenbahnbrücke bewahrt: Sie gibt vor blind zu sein und seine Hilfe zu brauchen. Der schüchterne Ferdi, der Probleme damit hat, Nähe zu anderen Menschen aufzubauen, fällt auf den Trick hinein. Er fühlt sich bei Jona sicher, weil sie seine angebliche Hässlichkeit nicht sehen kann. Beide verlieben sich ineinander, doch irgendwann muss Jona mit der Wahrheit herausrücken.

Was nach einer simplen „boy meets girl“-Geschichte klingt und im Grunde auch ist, strotzt im Detail nur so vor wunderbaren Einfällen: Da muss ein Blindenhund schon mal zur „Reparatur“ in die Werkstatt, dürfen Polizisten auch im Dienst ein Bier trinken und die „blinde“ Jona in einem Nachtclub unkonventionell als Türsteherin arbeiten. Tom Lass inszeniert die Handlung mit leichter Hand und fabuliert sich sympathisch und unverkrampft durch eine idealisierte Filmwelt, in der alles möglich scheint, in der Menschen mit Behinderung völlig selbstverständlich in der Gesellschaft integriert sind und auch Außenseiter ihre echte Chance bekommen.

Der Film pfeift auf jeden Realismus und vertraut ganz auf die Spielfreudigkeit seiner Darsteller und die sich spontan entwickelnde Situationskomik. Die Rechnung geht erstaunlicherweise auf. Gerade weil man als Zuschauer den Figuren ihr Glück so sehr gönnt, entwickelt die Handlung eine eigene verquere Logik, die auf absurde Weise vollkommen schlüssig erscheint. Wenn Jona und Ferdi am Ende nach einigen verrückten Irrungen und Wirrungen doch zueinander finden, überträgt sich ihr Glück unmittelbar auf den Zuschauer. Und dann trifft der Film bei aller improvisierten Konfusion direkt ins Herz. Und erzeugt ganz nebenbei eine aufregende Form der Kinomagie, wie sie im deutschen Kino nur selten zu finden ist.


Blind & Hässlich: Deutschland 2017, Regie: Tom Lass (Reihe Deutsches Kino)

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