All Quiet On the Western Front – Volker Bertelmann: „Im Westen zu viel Neues?“

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Im Westen Nichts Neues, der berühmte Antikriegs-Roman Erich Maria Remarques und Pflichtlektüre in vielen weiterführenden Schulen in unserem Land, wurde zum dritten Mal verfilmt – dieses Mal für Netflix und zum ersten Mal in deutscher Sprache. Seitdem die Oscar-Regeln aufgrund der Corona-Pandemie zu Gunsten der Streaming-Anbieter gelockert wurden, haben sich die Chancen für internationale Produktionen erhöht, nicht ausschließlich in der Kategorie „Bester internationaler Film“ nominiert zu werden. So war es möglich, dass Im Westen Nichts Neues völlig überraschend neun Oscar-Nominierungen erhalten konnte – ein absoluter Rekord für eine deutschsprachige Produktion. Noch vor Corona hätte er dafür in den amerikanischen Kinos starten müssen, was bei der Abneigung des amerikanischen Publikums gegen das Lesen von Untertiteln vermutlich kaum passiert wäre. Am Ende konnte der Film von Edward Berger – auch das ein Riesenerfolg – mit vier der begehrten Trophäen nach Hause gehen: für die beste Kamera, den besten internationalen Film, die beste Ausstattung – und die beste Musik.

Vor allem im Ausland kam Im Westen nichts Neues überwiegend hervorragend an. Skeptische Stimmen bemängelten zwar historische Fehler und zu große Freiheiten gegenüber der Romanvorlage. Doch man muss nur in Richtung Ukraine schauen, um zu verstehen, wie unverändert hochaktuell die Antikriegs-Botschaft ist, die auch in der deutschen Neuverfilmung sehr eindringlich zum Ausdruck kommt. Und manche Ergänzung gegenüber dem Buch ist durchaus gelungen. Der Film deutet etwa die historischen Entwicklungslinien zum Zweiten Weltkrieg an, in dem der Friedensschluss von Compiègne gezeigt wird, aus dem die Nazipropaganda später die sogenannte Dolchstoßlegende strickte. Auch die hochgradig unmenschliche Denkweise der Militärstrategen, für die Menschenleben nur eine Ressource sind, scheint bereits auf den nächsten Krieg hinzudeuten. Insbesondere die finalen Minuten des Films erschüttern in dieser Hinsicht und zeigen den Wahnsinn des Krieges noch einmal in seiner ganzen unmenschlichen Dimension. Der militärische Blick auf alles und jeden als Mittel zum Zweck wird bereits in der eindrucksvollen Eröffnungssequenz des Films deutlich, wenn die Kamera die Reise der Uniform eines getöteten Soldaten ausgehend von einem großen Leichenberg begleitet. Bei der Aufbereitung in einer Wäscherei und Näherei wird vergessen, das Namensschild des Verstorbenen zu entfernen. Die Eröffnungssequenz endet schließlich damit, dass man genau diese Uniform dem Protagonisten, Paul Bäumer, überreicht. Als dieser das Namensschild entdeckt, wird es durch den Rekrutierungsbeamten lieblos herausgerissen und auf den Fußboden geworfen. Krieg als ewiger Kreislauf und industrieller Prozess – das ist eine zentrale Idee von Bergers Film. Und es ist auch eine zentrale Idee der Filmmusik von Volker Bertelmann.

Bertelmann startete seine musikalische Karriere unter dem vielleicht geläufigeren Namen „Hauschka“, unter dem er seit vielen Jahren Konzerte auf seinem präparierten Klavier gibt. Seine Spezialität ist es, den Klang des Instruments durch Manipulation der Saiten (zum Beispiel durch das Einklemmen von Gegenständen) zu verändern. Diese Vorliebe für Klangtüfteleien und Experimente bestimmt auch seine Arbeit zu All Quiet On the Western Front. Der größte kreative Input – so scheint es – wurde in die Entwicklung der Klangfarben investiert, während man nach komplexeren Melodien, harmonischen Entwicklungen, Kontrapunkt oder komplexer Rhythmik vergeblich sucht. Die Musik ist derart stark auf die filmische Wirkung ausgerichtet, dass sie als Hörerlebnis abseits des Films nur bedingt taugt. Der Oscar für die beste Filmmusik ist aber explizit für die Wirkung im Film bestimmt und nicht für die Musik mit der höchsten kompositorischen Qualität. Deshalb soll in diesem Text die Musik auch hauptsächlich unter diesem Blickwinkel betrachtet werden – ob man sie losgelöst vom Film hören will, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Das Hauptthema der Filmmusik ist ein Dreiton-Motiv, das in seiner ersten Ausprägung im Titel Remains wie ein stählernes Fanal wirkt und symbolhaft für die unbarmherzige „Kriegsmaschinerie“ steht. Der spezielle Sound entstand durch die Verwendung eines mit einem „Distortion“-Effekt versehenen Harmoniums, wie Bertelmann in einem Interview erklärte ([1]). Doch gerade diese elektronische Nachbearbeitung wirkt seltsam anachronistisch für einen im Ersten Weltkrieg spielenden Film. Hundert Prozent historisch akkurat muss eine Filmmusik selbstverständlich nicht sein, aber es wirkt fast so wie ein Techno-Stück in einem Kostümdrama und verhindert im ersten Moment ein „emotionales Eintauchen“. Es ist ein radikaler Verfremdungseffekt zum Wachrütteln, wenngleich die Inszenierung im Verlauf durchaus versucht, den Zuschauer in den Horror des Krieges hineinzuziehen, statt ihn zu distanzieren. In seiner modernen Ausprägung kommt das prägnante Hauptthema im Laufe der 53 Minuten Musik sehr häufig vor. Subtilere Variationen des Motivs im Streicherapparat funktionieren da schon besser. Doch gerade, weil das Thema so heraussticht, brennt es sich beim Hörer und Zuschauer unvermeidlich in die Ohren ein, vermutlich auch der entscheidende Grund, warum die Musik überhaupt für den Oscar vorgeschlagen wurde.

Doch es gibt auch andere interessante Elemente: Die Verwendung eines Akkordeons, das eher atmosphärisch und zum Teil elektronisch verfremdet zum Einsatz kommt, spielt geschickt mit den Klischees deutscher Folklore. Durch die sehr statische Rhythmik und die geringe Dynamik in der Lautstärke spiegelt die Musik effektvoll die emotionale Abgestumpftheit der Soldaten. Wortloser Chorgesang trägt zudem eine religiös-spirituelle Komponente zum Kriegsgrauen auf der Leinwand bei. Die in den Kampfszenen zu hörende Action-Musik kreist um das Dreiton-Motiv, bleibt dabei aber ziemlich generisch. Konzeptuell besitzt Bertelmanns Vertonung also ohne Zweifel einige ambitionierte Ansätze. Da die Musik aber jenseits der zum Sound Design tendierenden Gestaltung nicht wirklich komplex ist, entsteht trotzdem der Eindruck, dass aus den Ideen mehr herauszuholen gewesen wäre.

Doch dieser eher minimalistische Ansatz, bei dem die Produktion der Musik wichtiger zu sein scheint als die Komposition selbst, liegt im Trend. Ähnlich arbeiten aktuell „angesagte“ Filmkomponisten wie Hildur Guðnadóttir oder Max Richter schon seit vielen Jahren. Auch dort wird eher mit sehr einfachen, aber einprägsamen Motiven gearbeitet. Bertelsmanns All Quiet On The Western front schlägt mit seinem eindringlichen Drei-Noten-Motiv in eine ähnliche Kerbe und durfte dafür letzten Endes sogar den begehrten Oscar in die Höhe strecken. Aufgrund der guten konzeptuellen Ansätze ist das sicher nicht ganz unverdient, lässt aber weitaus stärkere Filmmusiken des Jahrgangs 2022 außer Acht: Michael Abels Nope etwa wurde sträflich vernachlässigt, ebenso das polnische Esel-Drama EO, mit seiner äußerst expressiven Musik von Pawel Mykietyn. Auch Michael Giacchinos kraftvoll-nihilistische Batman-Partitur fehlte unter den Nominierten. Am Ende des Tages sind Oscar-Entscheidungen natürlich immer eng mit Hype, Kampagnen und dem gesellschaftspolitischen Zeitgeschmack verbunden. Kompositorische Qualität spielt oft nur eine untergeordnete Rolle. Das war bereits bei vielen Gewinnern der Vergangenheit so und ist auch bei All Quiet On The Western front nicht anders.


[1] So ist die oscarprämierte Filmmusik entstanden (detektor.fm)

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