Tag 1: Alice in Braunschweig

Unter neuer Leitung und mit leicht abgeändertem Namen präsentiert sich das Braunschweig International Filmfestival – wie das einstige Filmfest nun heißt – 2014 mit einem Programm aus viel Bewährtem und einigen behutsam eingeführten Neuerungen. Der neue Leiter, Michael P. Aust, hat die Kurzfilme in einen eigenen Block verschoben, um so ein umfangreiches Programm zu ermöglichen. Die Filmreihe „Sound on Screen“ betont ein erweitertes Interesse an der Verbindung Film & Musik. Doch im Mittelpunkt steht auch weiterhin ein breit gefächertes Filmprogramm meist junger Filmmacher, die den gesellschaftspolitischen Entwicklungen unserer Zeit nachspüren.

afterlife

Afterlife (Ungarn 2014)

Von einer besonderen Vater-Sohn-Beziehung erzählt der ungarische Wettbewerbsfilm Utóélet – Afterlife, der auf dem Filmfestival seine Deutschland-Premiere feierte: Der junge, labile Móze leidet nicht nur zeitlebens unter seinem rigiden, autoritären Vater. Zu allem Überfluss verfolgt der Dorfpastor den Sohn nach seinem plötzlichen Dahinscheiden auch noch als lästiger Geist. Und so gestaltet sich Mózes Versuch, sich vom Schatten seines dominanten Vaters zu lösen, als steiniger Weg, den die junge Regisseurin Virág Zomborácz, die auch das Drehbuch verfasst hat, mit einer Reihe absurder Szenen pflastert: Wenn Móze etwa einen angefahrenen Hund von der Straße aufliest, die erste Nacht mit der jungen Angéla verbringt oder eine Kinderaufführung der Weihnachtsgeschichte völlig aus dem Ruder läuft, offenbart Afterlife einen wunderbaren Hang zum schwarzen Humor.

Solche fast schon grotesken Momente gehen allerdings ein wenig auf Kosten der Glaubwürdigkeit der Figuren. Vor allem die anrührende Nebenhandlung um Mózes kleine Schwester, die unter der schweren Situation in der Familie am meisten leidet, erscheint unterentwickelt. Es ist eine schmale Gratwanderung zwischen Vereinfachung der ernsten Probleme einer dysfunktionalen Familie und drastischer Überzeichnung, die die ungarische Regisseurin mit Afterlife eingeht. Immerhin erliegt sie nicht der Versuchung, den gängigen Klischees einer Coming of Age-Geschichte zu entsprechen: So überwindet Móze seine schrullige Unbeholfenheit selbst am Ende des Filmes nicht. Und auch die Sorge des Vaters um die Zukunft des Sohnes behält ihre Berechtigung. Die Schlusseinstellung erweist sich als geradezu symbolisch: Móze treibt alleine mit einem Ruderboot auf dem Wasser. Die Paddel hat er am Ufer vergessen. Ohne Rettung von außen wird es nicht gehen.

Filmkonzert Alice in Wonderland (USA 2010)

Zugegeben: Tim Burtons Alice in Wunderland lief erst vor kurzem im Fernsehen und der Film besitzt einen derartigen Bekanntheitsgrad, dass er zumindest auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Wahl für den Eröffnungsfilm eines Filmfestivals zu sein scheint. Doch nur auf den ersten Blick, denn eine Live-Aufführung mit groß besetztem Orchester und Chor hat bei Tim Burtons Alice-Geschichte einen nicht unbeträchtlichen Reiz. Danny Elfman hat für das versponnene Kinomärchen nämlich eine seiner vielleicht schönsten Filmmusiken komponiert, deren markantes Hauptthema ein wunderbarer melodischer Einfall mit beträchtlichen Ohrwurmqualitäten ist. Und wer dann noch um das geschickte Händchen des Dirigenten Helmut Irmigs in Sachen Filmmusik und die Qualitäten des Braunschweiger Staatsorchesters weiß, dem ist klar, dass die Fernsehausstrahlung keine echte Konkurrenz zum Konzerterlebnis sein kann.

Burtons Alice im Wunderland stieß bei seinem Kinostart 2010 auf ein gemischtes Echo, nicht zuletzt wurde kritisiert, dass die Trickeffekte das Fantasievolle des Romans von Lewis Carroll in den Hintergrund drängen würden. Mit entsprechendem Zeitabstand trifft dieser Kritikpunkt zwar weiterhin zu, doch zeigt sich auch, dass die Stärken des Films überwiegen: Da gibt Mia Wasikowska, die damals noch am Anfang ihrer Karriere stand, eine zauberhaft eigensinnige Alice ab. Die Rahmenhandlung um den Eheantrag an die 19-Jährige ist originell inszeniert und Helena Bonham Carter erweist sich in der grandiosen Rolle der biestigen roten Königin geradezu als Szenendiebin. Das Herz des Filmes ist aber Elfmans Filmmusik, die ihn auch über die zu effektverliebten Szenen trägt. Die vielfältigen Variationen und reizvollen Instrumentierungen lassen das Alice-Thema nie langweilig werden.

In der Deutschland-Premiere des Alice in Wonderland-Konzertes (eine kleine Tour durch ausgewählte Städte folgt) gelang dem Braunschweig Staatsorchester unter Irmig ein derart präzises Spiel, dass man manchmal vergessen konnte, dass man hier nicht der originalen Filmmusik zuhörte. Dabei gab es durchaus kleine Änderungen in der Konzeption: So wurde die schrullige, im originalen Film ärgerlich moderne, Tanzeinlage des Hutmachers durch ein passenderes orchestrales Arrangement ersetzt und Avril Lavignes Abspann-Song durch eine Reprise des Alice-Themas (wie es auf CD zu hören ist) ausgetauscht. Und weil die Filmmusik an diesem Abend eine so prominente Rolle einnahm, war es wohl auch nur folgerichtig, im Abspann die Namen der Orchestermitglieder und nicht die der Schauspieler zu listen. Nur fast schon ein wenig schade, dass der großartige Gesang des Kinderchores immer wieder durch den tosenden Beifall des Publikums überlagert wurde. Doch beweist diese dankbare Reaktion natürlich vor allem, dass das echte Erleben von Film und Filmmusik eben doch seine ganz eigene Berechtigung und Faszination besitzt.