Tag 2: Im Schatten deutscher Geschichte

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In einer Konzertkritik zur Festival-Eröffnung mit Alice im Wunderland titelt die Braunschweiger Zeitung im Feuilleton mit „Alice in der Streichersoße“. Der Autor, Andreas Berger, schreibt von konventioneller Filmmusik und lässt kein gutes Haar an der Aufführung. Der Gesang des Chores wird auf Chorgesumme reduziert, die Musik als monothematisch bezeichnet (was so nicht stimmt, auch wenn das Hauptthema omnipräsent ist). Man darf natürlich geteilter Meinung über den Konzertabend sein, aber ob der Autor sich hier nicht zumindest ein klein wenig verhoben hat? Doch zurück zum Festival-Programm:

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Wir sind jung. Wir sind stark (Deutschland 2014)

Die erschreckenden Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 sind in der öffentlichen Wahrnehmung möglicherweise etwas in Vergessenheit geraten, bleiben angesichts jüngster Ausschreitungen in Köln bei einer Salafisten-Demo auch weiterhin beklemmend aktuell. Damals hatten mehrere Hundert rechtsradikaler Hooligans unter Beifall tausender Schaulustiger ein Wohnheim, in dem Vertragsarbeiter aus Vietnam lebten, in Brand gesteckt. Burhan Qurbani stellt in seinem überwiegend in Schwarz-Weiß gedrehten Spielfilmdebüt Wir sind jung. Wir sind stark die Ereignisse des 24.8.1992, dem Höhepunkt der rassistischen Ausschreitungen, nach. In einer Mischung aus fiktiver Spielhandlung und einer akribisch aufbereitenden Chronik des Tages folgt der Film in parallelen Handlungssträngen einer Gruppe rechter Jugendlicher, dem ratlosen Lokalpolitiker Martin und der vietnamesischen Arbeitern Lien, die mit ihrer Familie im sogenannten Sonnenblumenhaus lebt.

Wir sind jung. Wir sind stark beschwört auf glaubwürdige Weise die fatale Stimmung diese Tage hinauf – die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, deren Frust in ideologischer Verblendung und radikaler Gewaltbereitschaft mündet, das Wegsehen der Politik aus parteipolitischem Kalkül und nicht zuletzt ein aufgeheizter Mob, der einen Sündenbock für das eigene Scheitern sucht und findet. Über die Nachstellung der Historie hinaus gelingt es Burhani, Klischees zu vermeiden und stattdessen Fragestellungen zu Identität und Gruppendynamik aufzuwerfen. So porträtiert er die Unsicherheit der Jugendlichen ebenso wie ihre Sehnsucht nach Anerkennung und einem anderen Leben; stellt eiskalte Politiker denjenigen gegenüber, die die Katastrophe verhindern wollen.

Besonders beeindruckend ist die Kameraarbeit von Yoshi Heimrath, die immer wieder spannende Perspektiven auf das Geschehen findet. Erst wenn die Kamera aus der Vogelperspektive vor dem Wohnblock über die aufgeheizten Menschenmassen und die Reihen der Polizeistaffeln fährt, wird das ganze Ausmaß an Hass und Aggression geradezu physisch spürbar. Das anfängliche Schwarz-Weiß ist längst der Farbe gewichen. Als wollten uns die Bilder sagen: Was ihr hier seht, ist nicht historisch fern. Es ist echt. Auch im Hier und Jetzt noch.

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Violent (Kanada/Norwegen 2014)

Ihr neues Leben in Bergen hat sich die junge Dagny irgendwie anders vorgestellt. Nun arbeitet sie im Lädchen des spinnerten Brent und fristet in der kleinen darüber liegenden Wohnung ein kärgliches Dasein. Ihre beste Freundin ist weggezogen und auch sonst kennt sie kaum Jemanden in der großen Stadt. Erst nach und nach, beginnt sie ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen.

Der vom Andrew Hucculak, Drummer der Band „We are the City“ aus Vancouver, inszenierte Film ist in fünf Kapitel unterteilt, die Menschen gewidmet sind, die in Dagnys neuen Leben einen besonderen Stellenwert einnehmen. Dabei geht es um philosophisch aufbereitete Themen wie Liebe, Tod & Vergänglichkeit. Der Film evoziert in seinen teils statischen Einstellungen, dem Spiel mit Unschärfe und experimentellen Szenenfolgen eine sehr spezielle, eigentümliche Atmosphäre. Dazu wummert das elektronische Sound-Design von „We are the City“ zu eigensinnigen Monologen der Protagonistin düster-bedrohlich aus dem Off.

Doch auch wenn Violent durch das frische Spiel von Dagny Backer Johnsen in der Hauptrolle phasenweise für sich einnimmt, wirkt das filmische Konstrukt doch immer wieder künstlich und prätentiös. Vieles erscheint zudem unglaubwürdig: Dass ein junges bildhübsches Mädchen in einer Stadt wie Bergen keinen Anschluss findet, ist schwer vorstellbar. Und warum sie erst so spät den Großvater aufsucht, bleibt ebenso ein Geheimnis des Drehbuchs wie die Antwort auf die Frage, warum die eigene Mutter Dagny ausgerechnet an einen seltsamen Eigenbrötler wie Brent vermittelt. Andrew Hucculak will mit Violent vielleicht zu viel, verrennt sich ein wenig in überambitionierten Manierismen. Die im Grund einfache Geschichte nimmt sich ohnehin viel zu ernst. Dies liegt nicht zuletzt an der rein atmosphärisch agierenden Filmmusik, die in ihrem unheilschwangeren Dröhnen der Geschichte immer wieder die dringend benötigte Luft zum Atmen nimmt.

Nachthelle (Deutschland 2014)

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Eine ganz besondere „Menage à Trois“ inszeniert Florian Gottschick in seinem Abschlussfilm an der Potsdamer Filmhochschule: Anna kehrt mit ihrem jungen Freund in ihr Elternhaus im Osten zurück, um dort mit ihrem Ex Bernd (Benno Führmann) und dessen Partner zusammen ein Wochenende zu verbringen. Doch schnell reißen alte Wunden auf, entstehen zwischenmenschliche Spannungen. Anna fühlt sich immer noch zu Bernd hingezogen. Zugleich häufen sich mysteriöse Ereignisse und ein lange zurückliegender Todesfall wirft seinen Schatten über das scheinbare Idyll.

Florian Gottschick konterkariert in Nachthelle raffiniert die Erwartungen der Zuschauer, betreibt ein vielschichtiges Vexierspiel um Identität, Psychoanalyse und unterdrückte Sexualität. Was als Beziehungsdrama beginnt, entwickelt sich rasch zum irritierenden Mistery-Thriller, um am Ende eine gänzlich überraschende Wendung zu nehmen. In seiner Konzeption erinnert Nachthelle ein wenig an einschlägige Hollywood-Filme wie Identity oder Stay. Wie diese Vorbilder hat auch Gottschicks Film ein wenig das Problem, dass der finale Twist das vorher Gesehene zwar gewissermaßen erklärt, aber gleichzeitig unbefriedigend wirkt, weil es die Regeln der gezeigten Filmwelt erst im Nachhinein offenbart. Wer sich daran nicht stört, findet in Nachthelle einen Film, der reizvoll und durchaus originell mit klassischen Erzählformen umgeht und typische Genreklischees clever unterwandert.