Das Eis schmilzt, der Schleier über der Vergangenheit wird gelüftet. Der leere Blick von Eva wirkt müde, ausgehöhlt. Die in sich zurückgezogene junge Frau ist in ihrem Leben gescheitert. Den Kontakt zu den Eltern hat sie schon lange abgebrochen. Zu sozialen Bindungen scheint sie unfähig. Warum, das offenbart sich in Rückblenden in Eva Kindheit. In den 90er Jahren wächst sie als Teenager mit ihren Eltern in einem kleinen Ort in der Niederlande auf. Doch die sonnendurchfluteten Bilder vom im Pool planschenden Kindern und fröhlichen Dorffesten täuschen: Eva Mutter hängt an der Flasche, die Eltern streiten sich endlos. Eva sucht verzweifelt nach Halt und Anerkennung, vor allem bei dem ein paar Jahre älteren Tim, den sie anschmachtet, der aber selbst den Unfalltod des eigenen Bruders verkraften muss. Eines Tages beginnen die pubertierenden Kinder ein folgenschweres Spiel: Sie laden in ihre Runde Mädchen aus dem Dorf ein, denen sie mit Aussicht auf einen Geldgewinn eine Rätselaufgabe stellen: Bei jeder falschen Lösung müssen die Opfer ein Kleidungsteil ausziehen. Was anfangs als dummes Spielchen zwangsläufig schiefgeht, eskaliert mit jedem Treffen weiter zur folgenschweren Grenzüberschreitung bis hin zur Demütigung und endet für Eva in einem traumatischen Erlebnis.
Mit ihrem Wettbewerbsbeitrag When it melts (nach dem Bestseller-Roman von Lize Spit) porträtiert Veerle Baetens eine gebrochene Frau, deren Leben bereits als 13-Jährige für immer zerstört wurde. Präzise beobachtet sie die Beziehungen der Kinder untereinander, die von der Angst vor Ausgrenzung, der fehlenden Wärme im Elternhaus und dem eigenen sexuellen Erwachen bestimmt werden. Es ist ein toxisches Gemisch, das dort implodieren kann, wo die Erwachsenen nicht hinsehen. Im Kino wurde schon oft von dysfunktionalen Familien und Kindheitstraumata erzählt. Insofern wandert When it melts durchaus auf ausgetretenen Pfaden. Dass der Film dennoch derart nachhallt, liegt am herausragenden, exzellent gecasteten Darsteller-Ensemble auf beiden Zeitebenen. Vor allem die 16-jährige Rosa Marchant erweist sich mit ihrem nuancierten, reifen Spiel als Entdeckung. In ihrem Gesicht lässt sich präzise jede Regung von Scham, Unbehagen und letztendlich lähmendem Entsetzen ablesen. Dazu trägt auch die subtile Kameraarbeit bei, die nicht nur geschickte Symbolbilder wählt, sondern auch fern von jedem Voyeurismus immer nah an den Figuren bleibt. Wenn sie in der finalen Eskalation in Großaufnahme auf dem Gesicht der verstörten Eva verweilt, ist das kaum zu ertragen. Ältere Menschen schwärmen gerne von der Jugend in einer angeblich unbeschwerten Zeit noch vor Smartphones und dem Mobbing in sozialen Netzwerken. Nicht ganz zu Unrecht. Dabei gab es das alles auch schon früher. Mit ihrem beklemmenden Drama beweist Veerle Baetens eindrucksvoll, dass die Nöte der Teenager damals kaum andere waren, wenn der Schleier des sentimentalen Blicks zurück wegschmilzt.