Unter hohem Zeitdruck mussten bereits die Filmkomponisten des Golden Age arbeiten. Nicht selten sahen sich damals auch Hollywood-Größen wie Erich-Wolfgang Korngold oder Max Steiner dazu gezwungen, Nachtschichten einzulegen, um ihre Arbeit fristgerecht abliefern zu können (vgl. hierzu auch die Kritik zu Vom Winde verweht). Seitdem hat sich nur wenig geändert und auch John Williams kann davon ein Lied singen. Im Sommer hatte er gerade die Partitur zu Minority Report fertiggestellt, als die Arbeit am neuen Harry Potter-Abenteuer anstand. Im Nacken hatte der Komponist bereits ein weiteres Spielberg-Projekt: die Komödie Catch me if you can, die im Dezember 2002 US-Premiere feierte.
Frühzeitig war klar, dass Williams diesen engen Zeitplan kaum würde einhalten können. Für die rund zwei Stunden Musik, die für das Potter-Sequel geplant waren, griff er deshalb auf die Hilfe seines Hollywood-Kollegen William Ross zurück. Ross hat bislang hauptsächlich kleinere Filme wie z.B. die Familiendramen Jahre der Zärtlichkeit und My Dog Skip vertont. Einer Presseerklärung zufolge war es seine Aufgabe, basierend auf etwa vierzig Minuten Originalkomposition von Williams, den Rest der Musik mit der Adaption und Variation der vorgegebenen Themen des Altmeisters zu gestalten. Inwieweit diese ursprüngliche Konzeption tatsächlich eingehalten wurde, ist jedoch nicht bekannt. Es kursieren Gerüchte, dass Williams deutlich mehr Musik komponiert hat als eigentlich vorgesehen. Die CD selbst scheint diesen Verdacht beim Hören zu erhärten. Eine klare Trennlinie zwischen Williams- und Ross-Anteilen lässt sich nämlich nicht ausmachen. Doch das muss nicht viel heißen, sondern dürfte eher William Ross bescheinigen, eine perfekte Williams-Stilkopie hingelegt zu haben.
Lässt man derlei Spekulationen beiseite, kann man sich an einem klangvollen Williams-Score erfreuen, der ganz in der sinfonischen Tradition der Musik zum ersten Teil steht. Es gibt ein Wiederhören mit dem liebgewonnenen „Hedwig“-Thema, das vergleichbar mit Star Wars und Indiana Jones Signaturcharakter für die Serie einnimmt. Es dürfte deshalb wohl auch unverzichtbarer Bestandteil der nachfolgenden Harry Potter-Episoden werden. Dass John Williams mit der Kammer des Schreckens keinen simplen Aufguss des ersten Teils geschaffen hat, zeigt sich allein schon darin, dass er das aus dem Stein der Weisen bekannte Themenmaterial nur sehr zurückhaltend einsetzt.
Doch auch die neuen Themen zeugen von einer keinesfalls uninspirierten Arbeit: Eine lyrische, dem Liebesthema aus Star Wars – Der Angriff der Klonkrieger verwandte Melodie (erstmals in „Fawkes the Phoenix“ zu hören) sowie einige neue Motive, etwa für den eingebildeten Lehrer Gilderoy Lockhart oder den Hauselfen Dobby, bringen gelungene Abwechslung. Aber auch die ein oder andere reizvolle Passage kann begeistern: Wenn der Zauberlehrling zum Beispiel mit einem magischen Auto („The Flying Car“) durch die Luft reist, spielt Williams geschickt auf die Flying Sequence aus E.T. an. Die furiose Action in „The Spiders“, aber auch die wortlosen Choräle können ebenfalls überzeugen. Die Filmmusik zu Harry Potter und die Kammer des Schreckens steht der Komposition zum ersten Abenteuer des Magiers in nichts nach. Im besten Sinne traditionell, bietet sie prachtvolle Unterhaltung und eines der schönsten Höralben des Jahres. Zwar wird hier kein nennenswert neuer Grund und Boden beschritten, aber dies ließe die filmische Vorlage wohl auch kaum zu. Mit der dritten Komposition in diesem Jahr beweist John Williams einmal mehr, dass er auch unter Zeitdruck Hochwertiges zu schreiben vermag. Und das verbindet ihn mit den Größen des Golden Age.