Vermag ein Stummfilm auch noch über achtzig Jahre nach seiner Entstehung ein heutiges Publikum zu fesseln? Das dem ohne Probleme so sein kann, das stellten am Sonntagabend die Kieler Philharmoniker unter Leitung von Johannes Willig unter Beweis: Zur Aufführung gelang Charlie Chaplins berühmter, 1925 entstandener Stummfilm The Gold Rush. Als musikalische Begleitung diente die Musik Chaplins selber, die dieser allerdings erst siebzehn Jahre später für eine Tonfilmfassung komponiert hatte. Das Wort „Komponieren“ ist in diesem Zusammenhang freilich mit Vorsicht zu genießen: Chaplin war kein ausgebildeter Komponist, der sinfonische Partituren wie diese hätte schreiben können. David Raksin, der ihm bei der Musik zu Modern Times unterstützt hat, beschrieb 1996 [1] den Arbeitsprozess wie folgt: „Charlie brauchte jemanden, der mit ihm zusammenarbeitete, da er nicht wusste, wie man Musik aufschreibt oder wie man Material entwickelt.“ Im Falle von The Gold Rush dürfte daher ein maßgeblicher Anteil der Kompositionsarbeit Max Terr, zuzuschreiben sein. Der seinerzeit bei MGM angestellte Pianist und Komponist war nämlich für die musikalische Leitung der 42er Version zuständig. Timothy Brook, der im Jahr 2007 die Musik der Neufassung für die originale Stummfilmversion arrangierte, geht näher ins Detail [2]: „Wenn Chaplin am Klavier arbeitete, konzentrierte er sich primär auf die melodische Struktur und die Abfolge der Akkorde unabhängig vom Takt [..] und komponierte die Musik so wie er sie in seinem Kopf hörte“.
Die sehr eingängige, spätromantische Musik Chaplins steht in ihrer üppigen Orchestersprache deutlich der Hollywood-Sinfonik der 30er Jahre nahe, die von Komponisten wie Max Steiner, Erich Wolfgang Korngold und Alfred Newman maßgeblich geprägt wurde. Die leitmotivische Konzeption, das Zitieren sowohl klassischer Konzertwerke als auch beliebter Volkslieder macht sie zu einem nicht untypischen Vertreter ihrer Zeit. Auch wenn die Vertonung eigentlich für den Kontext des Tonfilms gedacht war, ist bemerkenswert wie perfekt die Vertonung mit den Bildern des Stummfilms harmoniert. Auch das Publikum des gut gefüllten Kieler Schlosses konnte sich am frühen Sonntagabend von dem suggestiven Gestus und der überraschend vielseitigen Klangwirkungen der reizvollen Komposition überzeugen: Wenn die Kamera den beschwerlichen und gefahrvollen Treck der Goldsuchenden in den vereisten Bergen Alaskas begleitet, erklingt zum Beispiel eine düstere programmatische Musik, die man in einer Komödie so kaum erwarten würde. Ähnlich überraschend die Vertonung der berühmten Szene, in der der hungerleidende Tramp zusammen mit seinem Kumpan einen Stiefel verspeist: Hier agiert ein schwungvoller Walzer als Kontrapunkt, der die ernste Szene in ein humorvolles, ironisch gebrochenes Licht taucht.
Berührend auch die Musik in der Silvesternacht-Szene: Der Tramp wird von seinen Gästen, die sich im Tanzsaal vergnügen, im Stich gelassen. Die Feiernden singen den Traditional „Auld Lang Syne“. Das Orchester übernimmt die Melodie um dann jedoch allmählich zu verstummen. Die Mitglieder des Orchesters intonieren daraufhin das Lied in einer besonders melancholischen Variante. Es ist genau der Moment, in dem die vom Tramp angebetete Giorgia im Film beginnt, ihre unrühmliche Tat zu reflektieren. Die Musik ist voll von derartigen, mit großem filmischen Gespür angelegten Momenten, in denen die Musik viel zur filmischen Wirkung beiträgt, die Bilder trägt und gleichzeitig kongenial ergänzt. Umso erfreulicher, dass der musikalische Charme des beliebten Chaplin-Films vom bestens aufgelegten Orchester unter dem so präzisen wie eleganten Dirigat Willigs wunderbar eingefangen wurde. Das während des Filmes immer wieder herzhaft auflachende Publikum sah das wohl ähnlich und quittierte die Aufführung mit minutenlangen Standing Ovations. The Gold Rush – das war am Sonntag Werbung für den Stummfilm und die Filmmusik gleichzeitig. Bleibt zu hoffen, dass es nicht das letzte Konzert dieser Art in Kiel war.
Quellen:
- [1] Interview with David Raksin (Soundtrack Magazine Vol.13 / No.49 /1994)
- [2] Timothy Brook on „The Gold Rush“