„Beim Verblenden zusehen“ – Les Éblouis

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Ob Kinder religiös erzogen werden oder nicht und wenn ja, welcher Religion sie angehören, hängt immer von den Eltern ab, deren Weltbild den Kindern tagtäglich als Vorbild dient. Doch was passiert, wenn sich Eltern in ihrem Glauben zunehmend radikalisieren? Dieser Frage geht Sarah Suco in ihrem semi-autobiografischen Filmdrama Les Éblouis (deutsch: „die Geblendeten“) nach. Im Mittelpunkt steht die 14-jährige Camille (eindrucksvoll: Celeste Brunnquell), deren Eltern der „Gemeinschaft der Taube“, einer streng-katholischen Sekte, beitreten. Anfangs erscheint alles noch harmlos: das gemeinsame Beten und Singen, das ausgelassene Spielen auf dem Hof. Doch bereits das Schafs-„Määäh“ zu Tisch und das ständige Bitten um Vergebung, wirken befremdlich. Nach und nach übt die Sekte immer mehr Einfluss auf das Familienleben aus: Der Priester zwingt Camille, ihr Zirkus-Training aufzugeben und eine spirituelle Sitzung fördert derweil eine traumatische Kindheitserinnerung der Mutter zutage: Angeblich soll ihr Vater sie als Kind vergewaltigt haben. Die Konsequenz ist klar: Der Kontakt zu den Großeltern muss abgebrochen werden. Für Camille und ihre drei jüngeren Geschwister gilt fortan eine strenge Kleiderordnung. Camille ist fassungslos, weil sie tatenlos dabei zusehen muss, wie sich ihre Eltern scheinbar blind und mit immer größerer Hingabe dem Leben innerhalb der Gemeinschaft verschreiben und dabei sogar die Entfremdung von den eigenen Kindern in Kauf nehmen.

Die große Stärke von Les Éblouis ist es, die Geschichte nicht mit einem abschätzigen Blick aus der Distanz, sondern aus der persönlichen Perspektive Camilles zu erzählen. Als Zuschauer erleben wir ebenso ihre liebevolle Beziehung zu den Eltern wie ihre Unsicherheit und Verwundbarkeit. Gleichzeitig ist sie aber bereits alt genug, um zu ahnen, dass mit der „Gemeinschaft der Taube“ etwas nicht stimmen kann. Sarah Suco inszeniert das mit sorgfältiger Beobachtungsgabe, zeigt Camilles Konflikt mit ihren Mitschülern, den heimlichen Klamottenwechsel vor der Schule und die Sehnsucht nach dem Leben eines normalen Teenagers. Celeste Brunnquell in der Hauptrolle ist dabei eine Entdeckung: Ihr Spiel zwischen der Verletzlichkeit des Kindes und dem unaufhaltsamen Drang nach Selbstbestimmung trägt den Film auf anrührende Weise. Dem gegenüber stehen Camilles Eltern. Zum Glück gibt der Film auch sie nicht der Lächerlichkeit preis. Die Geburt des jüngsten Kindes, die Suche nach einer neuen Arbeit und der Stress des Alltags haben bei der Mutter zum Beispiel sichtbare Spuren hinterlassen. Verständlich also, dass sie nach Halt und Gemeinschaft sucht und damit anfällig für die Heilsversprechen der Sekte ist.

Diese Ausgewogenheit in der Darstellung zeichnet Les Éblouis aus. Aber natürlich ist der Film keine Dokumentation. Dies sieht man schon am stilisierten Vorspann mit der Artistiknummer an den Seilen, die Camilles Schwebezustand zwischen Loyalität zu den Eltern und den Kampf um Selbstbehauptung als Metapher vorwegnimmt. Zu der gelungenen Ästhetisierung trägt auch die Filmmusik von Laurent Perez del Mar bei, in der das Spiel von Streichern über elektronischen Rhythmen eine präzise Balance zwischen Spannungsmomenten und einfühlsamer Psychologisierung erzeugt. Auch sonst folgt das Drama einer geschickten Dramaturgie, die vermutlich weniger autobiografisch als filmisch gedacht ist. Wie sehr die Handlung Sarah Sucos eigene Kindheit abbildet, bleibt letztlich offen. Auch wenn die Regisseurin in Interviews das Fiktive an ihrem Film betont, spricht sie gleichzeitig von dem schwierigen Prozess des Wieder-Erinnerns an die eigene Jugend. Vor dem Abspann des eindringlichen Dramas steht die Widmung: „Für meine Brüder und Schwestern“. Den Rest kann man nur erahnen.

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