„Der Sound des Lockdowns“ – Live

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Ein Live Konzert? – Viel zu gefährlich! Was im Science-Fiction-Film Live noch als düstere Utopie gedacht war, ist in Zeiten der Corona-Pandemie 2020 schneller Realität geworden, als es sich die Drehbuchautorin und Regisseurin Lisa Charlotte Friederich beim Schreiben vermutlich hätte ausmalen können. Denn auch in ihrem Film gibt es einen Lockdown, aber nicht aufgrund eines gefährlichen Virus, sondern durch die allgegenwärtige Angst vor terroristischen Anschlägen. Live spielt in einer nicht näher definierten Zukunft, in der Ausgangssperren und Veranstaltungsverbote das neue „Normal“ eines Staates definieren, der die Sicherheit seiner Bürger über die individuelle Freiheit stellt. In dieser Welt ein Live-Konzert durchzuführen kommt einem Akt der Rebellion gleich, ist nicht nur illegal, sondern vor allem gefährlich. Als Ersatz dienen deshalb spezielle Virtual-Reality-Visiere und Mäntel, die im Virtuellen die Begegnung mit anderen Menschen vorgaukeln. Die Geschwister Claire und Aurel wollen sich mit dieser Illusion nicht zufriedengeben. Beide drängt es auf die echte Bühne, vor ein echtes Publikum. Gemeinsam mit cleveren Hacker-Freunden planen sie deshalb das Undenkbare. „Bist du geisteskrank?“ entfährt es einer Freundin von Claire, als sie von dem Plan erfährt. Doch die lässt sich nicht beirren. Zu groß ist der Drang nach Freiheit.

Natürlich konnte Lisa Charlotte Friederich 2016, als sie das Drehbuch zu Live schrieb, nicht ahnen, in welches Minenfeld von Debatte ihr Film vier Jahre später stoßen würde. Damals war die Regisseurin nach eigenen Angaben vor allem geprägt von der nicht enden wollenden Serie von Terror-Anschlägen, wie sie in Nizza, Marseille, Ansbach oder Brüssel stattfanden. Ein großes Konzert in Nürnberg wurde damals aus Angst vor neuerlichen Attacken abgesagt. Doch wie weit darf der Staat darin gehen, die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränken, um Sicherheit zu gewährleisten? Diese Diskussion von Live ist heute – mit völlig anderen Vorzeichen – erneut brandaktuell, in einer Zeit, in der allgegenwärtig um die Verhältnismäßigkeit und den Sinn von Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gestritten wird. Die Parallelen zur Welt im Jahr 2020 sind deshalb bemerkenswert, bringen aber auch Probleme mit sich. Denn allzu leicht ließe sich der unbändige Freiheitsdrang von Claire und Aurel im Sinne einer populistischen Agenda fehldeuten. Gut vorstellbar sogar, dass Anhänger der „ich lass’ mir von denen da oben nichts vorschreiben“-Fraktion sich hier in ihren Ansichten bestätigt fühlen.

Dabei geht es Live gar nicht so sehr um den Kampf zwischen Rebellen und repressiver Staatsgewalt. Die Terrorismus-Bedrohung bleibt in der Handlung eher nebulös und erhält keinen spezifischen politischen Kontext. Für eine konventionelle Spannungsdramaturgie scheint sich der Film ebenso wenig zu interessieren. Stattdessen verwandelt sich die Dystopie in der zweiten Hälfte abrupt in eine metaphysische Kain-Abel-Geschichte, die den ursprünglichen Diskurs komplett hinter sich lässt. Ohnehin ist Live ein sehr eigenwilliger Film, der sich üblichen Genrekonventionen entzieht. Dies liegt zum einen an der Kamerarbeit, die die Innenszenen in eine fernsehhaft anmutende Neon-Optik taucht. Noch mehr werden die Bilder von der Tonspur geprägt, die viel zur seltsam stilisierten Ästhetik des Filmes beiträgt. Die Musik von Rike Huy und Joosten Ellée erzeugt mit den Soli von Trompete oder Saxophon über pulsierenden elektronischen Rhythmen oder Klangsphären eine Art Zukunftsmusik, in der sich Gefühle von Isolation und Progressivität in einer genauso charismatischen wie künstlich anmutenden Klanglandschaft vereinen.

Das gelingt dem Komponisten-Duo derart gut, dass es den Film vor dem Absturz rettet. Denn inhaltlich wirkt Live ziellos, funktioniert weder im Weltenbau einer dystopischen Zukunft noch als gesellschaftspolitischer Kommentar. Und wenn die Inszenierung sich am Ende an einer spirituellen Überhöhung mit dem Auftreten einer gottgleichen Mutterfigur versucht, wirkt das geradezu absurd. Doch glücklicherweise gibt es die Musik, die das Inhaltliche in den Hintergrund rückt und die Orientierungslosigkeit dieser Zeit, das Innehalten und das Gefühl von Einsamkeit in bemerkenswerte Töne fasst. Sie spiegelt das Seltsame, nicht Greifbare und Schwerfällige und ist damit – wenn man so will – ein perfektes Sinnbild für das Leben in diesen bleiernen Tagen.

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