„Nichts ist in Ordnung“ – Albträumer

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Am Anfang spielende Kinder im Wald. Eine Kindheitserinnerung. Der Junge trägt seine jüngere Schwester Huckepack. Die Sonnenstrahlen fallen sanft durch die Blätter. Dazu meditative Klänge. Doch dann erreichen beide plötzlich einen dunklen Ort, ein verfallenes Fabrikgelände. Ins Holz geritzte Initialen. Ein Blutschwur mit einem viel zu scharfen Messer. Abrupt kippt die Stimmung in einen Abgrund. Die Kinder taumeln panisch zurück, beobachtet von ihrem jeweils älteren Ich. Schnitt. Ein Tagtraum der 17-jährigen Rebekka.

Die furiose Eröffnungssequenz von Philipp Klingers Regiedebüt Albträumer ist Programm. Wie in einem rauschhaften Sog zieht sie den Zuschauer in einen düsteren Abgrund, der keinen Halt mehr gibt. Genauso ergeht es Rebekka (Sarah Mahita): Zwei Jahre ist es her, dass ihr Bruder Dennis sich das Leben genommen hat. Doch in der Familie spricht man lieber nicht über das traumatische Ereignis. Die Erinnerung an Dennis wird zwar in einer angemessenen Gedenkfeier begangen, so wie es sich eben schickt. Doch eine echte Auseinandersetzung bleibt aus. Das ändert sich, als Vincent (Béla Gabor Lenz), der beste Freund von Dennis, wieder auftaucht. Er ist damals gemeinsam mit Rebekkas Bruder in die Tiefe gesprungen, hat den Sturz von der Brücke aber überlebt. Rebekkas Eltern sehen in ihm als vermeintlichen Anstifter den wahren Schuldigen für den Tod ihres Sohnes. Schließlich ist Vincent in seinem ganzen Auftreten eine einzige Provokation, ein eigenwilliger Sonderling, der in dem dunklen Fabrikversteck nicht weniger düstere Metal-Musik hört und ganz offensichtlich psychisch labil ist. Rebekka fühlt sich dennoch zu dem faszinierenden Außenseiter hingezogen. Gleichzeitig ahnt sie, dass sie längst nicht alles über den Tod ihres Bruders weiß. Sie folgt Dennis in seine morbide Welt, um herauszufinden, was wirklich zwei Jahre zuvor passiert ist.

Dabei bleibt lange Zeit (und vielleicht sogar über das Ende hinaus) offen, wie ernst es Vincent tatsächlich mit Rebekka meint oder ob er mit ihr nur perfide Spielchen spielt. Doch bei aller Unsicherheit muss sie diesen Weg gehen, einerseits um ihre wütende Trauer zu verarbeiten und andererseits, um genau die Antworten zu finden, die die Eltern ihr nicht geben können. Philipp Klinger inszeniert Rebekkas Suche nach Wahrheit als gleichermaßen kathartischen wie selbstzerstörerischen Trip, der sich nicht scheut, dem Abgrund des Todes ins Gesicht zu blicken. Audiovisuell ist das bemerkenswert gefilmt, mit scharfen Kontrasten zwischen der bürgerlichen Welt der wohlhabenden Eltern und Vincents Versteck in der alten Fabrik. In vielen Szenen verschieben sich die Grenzen von Traum und Realität, wird Albträumer zu einem morbiden Geisterfilm. Dann gibt es immer wieder harte Schnitte und die Metalsongs der Band Disbelief auf der Tonspur, die die ganze Wut der Protagonisten in die Welt hinausschreien.

Selten wurde Trauerarbeit im deutschen Kino so radikal, ungeschminkt und doch wahrhaftig inszeniert wie in Albträumer. Das macht die filmische Erfahrung ungemein intensiv, wirft im Nachhall aber die Frage auf, ob man in der Realität nicht doch eher auf Seite der Eltern stünde, die ihre Tochter vor sich selbst beschützen wollen. Denn auch wenn es Rebekka über die Grenzerfahrung gelingt, ihre Trauer besser zu bewältigen, so ist die Trennlinie zwischen der intensiven Auseinandersetzung mit dem Tod und morbider Todessehnsucht fließend. Natürlich ist die Verdrängungstaktik der Eltern ebenfalls ein großer Fehler. Doch bei all seiner kompromisslosen Wucht verliert Albträumer die Frage aus den Augen, ob es nicht auch im anderen gezeigten Extrem einen Punkt gibt, an dem es besser wäre, innezuhalten und umzukehren.

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