Viel ist momentan die Rede von Filmmusiken, die vor allem Atmosphäre sind, die ihren Film mit einer ausgetüftelten Klangtapete ausstatten, aber am Ende doch wenig mehr tun, als irgendwie da zu sein. Natürlich sollte man das nie völlig dogmatisch sehen, denn die meisten Vertonungen „machen“ dann schon etwas mehr. Das gilt auch für die Musik zur Filmbiografie Mary Shelley über die berühmte Frankenstein-Autorin, die von der ehemaligen Schauspielerin und nun in zweiter Karriere autodidaktischen Filmkomponistin Amelia Warner vertont wurde. Auch sie nähert sich dem historischen Topos sehr zurückhaltend und aus einer überraschend modernen Perspektive. Da gibt es eine betörend-sphärische Vokalise, flächige Streicherklänge, zarte Klaviertupfer, ja sogar poppige Rhythmen und elektronische Klangeffekte zu hören. Von der formalen Strenge der zeitgenössischen Musik des 19. Jahrhunderts ist das weit entfernt. Es wäre entsprechend leicht, Amelie Warner für den Mangel an stilistischer Authentizität zu kritisieren. Und doch genauso falsch. Bei genauem Hinsehen spiegelt die Filmmusik von Mary Shelley nämlich weniger den historischen Kontext als vielmehr die Haltung der Inszenierung zu Leben und Lebensumständen seiner berühmten Protagonistin.
Denn es fällt schwer, Mary Shelley nicht als ein direktes Produkt der Frauenrechtsbewegung der letzten Jahre und den Diskurs rund um die virale #metoo-Bewegung zu sehen. Das Drehbuch unterstellt nämlich, dass erst die schlechte Behandlung und Vernachlässigung durch ihren Partner und späteren Ehemann Percy Shelley die Autorin zum Schreiben von Frankenstein inspiriert habe. Mary als das durch Percy geschaffene Monster – das passt zweifellos gut in den gegenwärtigen Zeitgeist, ist allerdings bestenfalls eine sträflich vereinfachende Lesart für eine sicher nie einfache, sich aber durchaus gegenseitig befruchtende Beziehung. Es bleibt leider nicht der einzige Moment, in dem sich der Film die Ereignisse gerade so zurechtbiegt, wie es ihm im Sinne seiner Agenda passt: Während zum Beispiel Marys erstgeborenes Kind in Wahrheit an den Komplikationen einer Frühgeburt starb, ist es im Film Percy, der seine Frau mit dem schwerkranken Baby kaltherzig in die stürmische Nacht treibt, weil er die Miete nicht mehr bezahlen kann und ihm deswegen die Geldeintreiber im Nacken sitzen. Tatsächlich – und das ist historisch gut belegt – litten beide aufgrund ihrer unkonventionellen Lebensweise gleichermaßen unter der gesellschaftlichen Ächtung .
Aber andererseits ist es natürlich völlig legitim, dass sich die saudi-arabische Regisseurin Haifaa Al Mansour mit Mary Shelley eine eigene filmische Wahrheit schafft. Viele Filmbiografien tun das. Man denke nur an The Imitation Game oder Die Entdeckung der Unendlichkeit, die sich ebenfalls so manche inhaltliche Freiheiten nahmen. Und doch wirkt es hier besonders schade, weil der Blick auf das Leben der echten Mary Shelley, zweifellos eine Visionärin und bemerkenswerte Künstlerin, hinter der modernen Neuinterpretation zwangsläufig verschwommen bleibt. Und das geht auch an der Musik nicht spurlos vorüber: Amelie Warners Beitrag wirkt mit ihren kleinteiligen Minimalismen so, als wolle sie Zeit und Handlung bis ins Heute transzendieren. Das im Charakter sirenenartige 5-Notenmotiv für Mary Shelley scheint deshalb weniger der Psychologisierung mit musikalischen Mitteln zu dienen, als mit einfühlsamem Gestus daran zu erinnern, wie schwer es Frauen in der patriarchal geprägten Gesellschaft im 19. Jahrhundert hatten. Die Musik fühlt mit, legt um die offensichtlichen Qualen der Hauptfigur einen empathischen Mantel aus lieblichen Klavier- und Streicherharmonien, der sich irgendwo zwischen Thomas Newman und Rachel Portman, versehen mit einem avantgardistischen Hauch Michael Nyman, verorten lässt.
Wie wenig die Musik im Grunde aber trotz klangschöner Momente zu sagen hat, wird vor allem in der zentralen „Schöpfungsszene“ deutlich – eine stürmische Nacht auf dem Schweizer Anwesen Lord Byrons, in der der Legende nach der berühmte Frankenstein-Roman entstanden sein soll: Die beiden Musikstücke The Nightmare und The Book konzentrieren sich ganz auf die Hauptfigur Mary Shelley. In der Vokalise kehrt zunächst ihr verschwörerisch anmutendes Leitmotiv aus dem Eröffnungsstück wieder und The Book avanciert anschließend zu einem von Trommelschlägen begleiteten Streicher-Crescendo, welches zwar Symbolkraft und Bedeutung suggeriert, aber wie die filmische Vorlage eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Künstlerin Mary Shelley und ihrem Werk scheut. Ganz im Sinne der inszenierten Passionsgeschichte verharrt die Musik einmal mehr in einer introvertierten Pose. Dem Leiden der Hauptfigur misst sie mehr Bedeutung bei als dem eigentlichen Schaffensprozess, an dessen Ende der große Frankenstein-Roman stand. Dass Mary Shelley zeitlebens viele weitere Romane, Reiseberichte und Biografien geschrieben hat und sich auch lange nach dem Tod ihres Mannes noch für den Erhalt seines Werkes eingesetzt hat, darf im Film vermutlich allein schon deshalb keine Rolle spielen, weil es die eindeutigen moralischen Zuschreibungen des Filmes nicht zulassen. Und auch die Musik mag sich dieser eindimensionalen Grundeinstellung nicht widersetzen und verpasst es dadurch, die überbordende Fantasie und Fabulierfreude der Schriftstellerin in Töne zu fassen.
Was am Ende von Mary Shelley in Erinnerung bleibt, sind deshalb vor allem die erlesene Kameraarbeit und nicht zuletzt das eindringliche Spiel von Dakota Fanning in der Hauptrolle. Und Amelia Warner? Die Newcomerin schlägt sich allen gemachten Einschränkungen zum Trotz wacker. Geschickt erfüllt sie den Produzenten-Wunsch nach einem modernen Vertonungskonzept und setzt zugleich mit dem ominösen Leitmotiv für Mary Shelley ein kleines melodisches Highlight. Was sie hier mit ihrem vielversprechenden Erstling bietet, lässt sich dann eben doch nicht völlig auf ein bisschen Atmosphäre reduzieren. Und trotzdem will der Eindruck nicht verschwinden, dass ihre Musik mehr zum Film hätte beitragen können, als allein mit Wohlklang um das Leid der Protagonistin zu oszillieren. Doch das war offensichtlich nicht gewollt. Und die Schuld dafür muss man ganz sicher nicht bei ihr suchen, die noch ganz frisch im Geschäft ist, sondern zuallererst beim zu sehr dem Zeitgeschmack verhafteten Film.
Quellen:
Dissecting ‚Mary Shelley‘: How Accurate Is the Biopic? (Hollywood-Reporter, abgerufen 10.3.2020)
https://www.hollywoodreporter.com/news/true-story-mary-shelley-how-accurate-is-biopic-1116219