Der Mann auf dem Drahtseil – das war der Franzose Philippe Petit, der 1974 ohne Erlaubnis in 417m Höhe zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers balancierte, damals noch die höchsten der Erde. Der britische Regisseur James Walsh hat dem waghalsigen Artisten nun mit dem Dokumentarfilm Man on Wire – Der Drahtseilakt ein Denkmal gesetzt. Der Film ruft nicht nur die Erinnerung an Petit, sondern zwangsläufig auch an die am 11. September 2001 eingestürzten Türme wach. Die filmmusikalische Konzeption von Man on Wire entspringt einer Aussage Philippe Petits. Der soll viele Jahre später einmal auf die Frage, woran er hoch oben auf dem Seil denke, geantwortet haben: „Hören Sie sich Michael Nymans Memorial an: Das ist es, was sich in meinem Kopf abspielt – ein Sturm, eine Symphonie und eine Entdeckungsreise“.
Das elfminütige Memorial entstammt eigentlich der Filmmusik zu Peter Greenaways The Cook, the Thief, his Wife and her Love von 1989 und ist nur eines einer ganzen Reihe von Nyman-Werken, die sich Walsh für die Begleitung seines Filmes ausgesucht hat. So bietet Man on Wire den seltenen Sonderfall, dass eigentlich für ganz andere Filme komponierte Musikstücke plötzlich in einem völlig neuen filmischen Kontext eingesetzt werden Auf CD findet der geneigte Hörer deshalb ein kleines „Best Of Michael Nyman“, das u.a. Ausschnitte aus Das Piano (1993), Der Kontrakt des Zeichners , Drowning by Numbers, The Libertine und dem Konzeptalbum La Traversée de Paris versammelt. Ergänzt wird die breit gestreute Musikauswahl um zwei klassische Klavierstücke von Erik Satie (die Gnossienne No.1 sowie die Gymnopédie No. 1).
Bei soviel aus diversen Quellen zusammengestellter Musik überrascht es, dass Man on Wire über eine – wenn auch nur sehr kurze – Originalmusik verfügt, die vom jungen Newcomer Josh Ralph komponiert wurde und mit zwei kurzen Stücken vertreten ist. Sie begleitet ausschließlich die Spielszenen, in denen Petit mit seinem Team an Helfern illegal in den World Trade Center eindringt und sich dort versteckt hält. Ralph arbeitet hier hauptsächlich mit atmosphärischen Spannungsmusiken, die die Minimalismen Nymans in einer zurückhaltenden Weise spiegeln und in ihren rhythmischen Klangfiguren ein wenig an die Musiken Alexandre Desplats erinnern, ansonsten aber unscheinbar bleiben.
Was ist von einer solchen Filmmusik auf CD zu halten? Einerseits ist die Auswahl an Nyman-Stücken durchaus gelungen, andererseits gibt es bereits diverse Nyman-Kompilationen, die ähnlich gut funktionieren. Die Originalkomposition ist freilich kaum der Rede wert. So richtet sich die Filmmusik vor allem an die Kinogänger, denen die Musik nach dem Sehen des Filmes besonders im Gedächtnis haften geblieben ist. Und angesichts des beindruckenden Zusammenspiels mit den Bildern des Films von James Walsh dürften das vermutlich gar nicht einmal so wenige sein.