Filme zum Spazierengehen

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Anisoara (Moldawien 2016)

Mit durchdringenden blauen Augen schaut Anisoara in die Kamera. Die junge Frau lebt in einem kleinen moldawischen Dorf auf dem Land zusammen mit dem Großvater. Wir sehen sie lachen und strahlen. Der Film beobachtet das 15-jährige Mädchen in ihrem Alltag, etwa bei der Melonenernte oder Feierlichkeiten, zeigt, wie sie von einem jungen Mann umworben wird und beide ans Meer fahren.

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Die moldawische Regisseurin Ana-Felicia Scutelnicu wirft einen anthropologisch anmutenden Blick auf ein Dorfleben, welches in dieser Ursprünglichkeit vermutlich gar nicht mehr existieren dürfte. Vielleicht passt es auch deshalb, dass sie ihrem Film das Märchen einer jungen Prinzessin voranstellt, die sich anschickt, zum König des Himmels zu reisen, sich aber an der Sonne die Flügel verbrennt und als Lerche verwandelt zurückkehrt. Das Drehbuch arbeitet dabei mit großen Leerstellen, Handlungsfragmenten, die nie einen Kontext erhalten. So taucht ein älterer deutscher Mann auf, begleitet Anishoaras Familie eine Weile, um sie dann wieder zu verlassen. In welcher Beziehung er zur Familie steht, bleibt offen. Ein anderes Mal setzt sich ein anderer Mann, der mit dem Großvater gezecht hat, nachts an das Bettende des Mädchens. Wird er sie bedrängen? Darauf gibt es keine Antwort.

Ihr Film sei einer zum Spazierengehen, eine Reise in die eigene Kindheit, erklärte die Regisseurin vor dem Film. Tatsächlich sind es vor allem die wunderschönen Landschaftsaufnahmen Moldawiens im Wechsel der Jahreszeiten und das unbekümmerte Spiel der Hauptdarstellerin Ana Morari, die von Anisoara in Erinnerung bleiben. Am Ende ist das junge Mädchen von der Prinzessin zur Lerche gereift und fliegt einfach davon.

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Die Habenichtse (Deutschland 2016)

Das Bild, welches wir von uns selbst haben, unserem Sein, unseren Erwartungen und Sehnsüchten steht im Mittelpunkt der Verfilmung von Katharina Hackes Die Habenichtse. Das Buch wurde 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und nun vom Braunschweiger Florian Hoffmeister kongenial verfilmt. Im Mittelpunkt stehen Jakob und Isabelle. Beide waren einmal ein Paar, haben sich aber getrennt und aus den Augen verloren. Ausgerechnet am Tag der Anschläge auf das World Trade Center im September 2001, bei dem ein enger Freund von Jakob ums Leben kommt, begegnen sie sich wieder. Das Paar findet erneut zueinander. Jakob, ein aufstrebender Anwalt, zieht nach London, um die Arbeit des toten Freundes zu übernehmen. Isabelle geht mit. Doch fühlt sie sich in der großen Stadt zunehmend verloren.

Florian Hoffmeisters in so elegant wie reduziertem Schwarz-Weiß gehaltene Romanadaption porträtiert auf eindringliche Weise die existenzielle Krise zweier Menschen, die als Spielball äußerer Einflüsse in ihrer Passivität gefangen scheinen.  Die präzise Charakterzeichnung und Psychologisierung wird durch symbolträchtige Kameraeinstellungen kunstvoll unterstützt: Bezeichnend bereits die erste Einstellung, in der Isabelle mit groben Pinselstrichen das eigene Gesicht freilegt. In Die Habenichtse passiert nichts aus Zufall. Jede Figur besitzt für das Psychogramm von Isabelle und Jakob eine Funktion. Dass es Florian Hoffmeister gelingt, dieses Aufladen mit Bedeutung bruchlos und natürlich in die Erzählstruktur zu integrieren, macht seinen Film zu einer Ausnahmeerscheinung in der deutschen Kinolandschaft.

Il Nido (Schweiz, Italien 2016)

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Eine Idylle vor dem Herren: Tagtäglich strömen Touristen in das kleine italienische Dorf Bucco, um zum Ort einer angeblichen Marienerscheinung zu pilgern. Geführt werden sie von der 19-jährigen Cora. Die Besucher spülen Geld in die Kassen des Dorfes, welches nicht zuletzt vom Tourismus lebt. Als plötzlich ein mysteriöser Fremder namens Salverio mit seinem Hund in Bucco auftaucht und mit scheinbarer Aggressivität Unruhe stiftet, wird der Frieden in dem streng katholischen Dorf nachhaltig gestört.

Klaudia Reynecke entlarvt in Il Nido – ohne zu viel zu verraten – Doppelmoral und Heuchelei von vorgeblich religiösen Menschen, denen es allein um das eigene Seelenheil und das Bewahren des schönen Scheins geht. Bezeichnend dafür ist bereits eine frühe Szene im Film, Salverio ist gerade aufgetaucht, in der eine alte Frau den Bürgermeister bittet, doch etwas gegen den Fremden zu tun, allein weil er seinen Hund ohne Leine mit sich führt.

Il Nido ist ein gleichermaßen spannendes wie ökonomisch erzähltes Filmpuzzle, bei dem sich alle Teile erst kurz vor Ende zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Beeindruckend ist die Hauptdarstellerin Sonia Gessner, die den Wandel einer jungen unbekümmerten Frau zur völligen Desillusion überzeugend verkörpert. Wenn ihre anfangs noch neugierig erscheinenden Augen am Ende einen wahnhaften, verrückten Ausdruck erlangen, dann spiegelt allein dieser Blick die ganze Tragödie, die sich abgespielt hat. Coras Idylle ist für immer zerstört.