In den meisten Filmen, die vom schwierigen Prozess des Erwachsenwerdens erzählen, gibt es einen Moment, in dem die Hauptfigur aus dem bisherigen Leben ausbricht und einen neuen selbstbestimmten Weg einschlägt. Am Ende fühlt sich der Zuschauer dabei gut, weil er einen jungen sympathischen Menschen bei einem Reifeprozess zusehen durfte, der ihn gestärkt in die Zukunft entlässt. Dass dies oftmals zu einfach gedacht sein mag, zeigt das grimmige britische Drama Obey (deutsch: „Gehorche“). Der Debütfilm von Jamie Jones bettet die Handlung um den 19jährigen Leon, der in Tottenham, einem der sozialen Brennpunkte Londons, aufwächst, in die schweren Unruhen von 2011 ein. Damals kam es nach der Erschießung eines unbewaffneten Farbigen zu mehrtägigen Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen im Problemviertel der Hauptstadt
Während seine Clique sich zunehmend radikalisiert, möchte Leon hingegen aus seinem bisherigen Leben ausbrechen. Er findet dafür aber nicht die nötige innere Ruhe: Seine Mutter ist alkoholsüchtig. Ihr neuer Freund erweist sich als cholerischer Schläger. Dazu der nie stoppende Lärm der Sirenen auf den Straßen und die eskalierende Brutalität in den Scharmützeln zwischen Polizei und Demonstranten: Leon sitzt auf einem emotionalen Pulverfass. Allein beim Boxen kann er seinen Frust abbauen. Als er bei einer Party die junge Twiggy (Sophie Kennedy Clark) kennenlernt, scheint er neuen Halt in seinem Leben zu finden. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben erweist sich als fragiles Gebilde.
Jamie Jones wirft seine Zuschauer in furiosen Bildern mitten in die Hektik und den explosiven Hexenkessel der fatalen Augusttage von 2011. In dem von Marc Rutherford mit unbändiger Energie gespielten Leon spiegelt sich das ganze Dilemma eines der ärmsten Stadtviertels Großbritanniens: Der Mangel an Chancen und echten Perspektiven bildet dabei nur eine Seite der Medaille. Jones zeichnet zugleich das beklemmende Bild eines Milieus, das sich durch die ständige Stigmatisierung und das Ausgeschlossensein vom Rest der Gesellschaft in einem Sumpf aus Drogen und Gewalt miteinander solidarisiert. Leon kann dem Angebot einer Sozialarbeiterin, eine College-Ausbildung zu beginnen, schon allein deshalb nicht nachkommen, weil es einem Verrat an seiner Familie und seinen Freunden gleichkäme.
Obey bietet in dem nach wie vor aktuellen Konflikt keine einfachen Lösungen an und schlägt sich auch nicht allein auf die Seite der gewaltbereiten Demonstranten. Der Film zeigt durchaus den Vandalismus, die Plünderungen und die verletzten Polizisten, die ihren Kopf für eine gescheiterte Gesellschaftspolitik hinhalten müssen. Auf der Gegenseite steht allerdings ein soziales Ghetto, dessen Bewohner nichts mehr zu verlieren haben und deren aufgestaute Wut sich mit ungehemmter Gewalt entlädt. Das Szenario ist real. Die Bilder aus London, Paris, Hamburg und anderen Metropolen ähneln einander auf beängstigende Weise. Und Leon bleibt als einer der vielen Verlierer der Gewaltspirale auf der Strecke. Ein selbstbestimmter Weg für ihn wäre zwar durchaus vorstellbar. Er ist – so legt es der Film nahe – leider nur kaum realistisch.
(Reihe: Wettbewerb)