„Die innere Stimme“ – Das Filmkonzert „Das Piano“ eröffnet das 33. Braunschweiger International Filmfestival“

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Für die seit ihrem sechsten Lebensjahr stumme Ada ist das Piano mehr als nur ein Instrument: Das Klavierspiel ist ein Ersatz für ihre Stimme, verleiht ihren innersten Gefühlen Ausdruck. Kein Wunder also, dass sie sorgfältig auswählt, vor wem sie spielt, wem sie einen Einblick in ihr Seelenleben gestattet. Im kolonialen Neuseeland Mitte des 19. Jahrhunderts irgendwo im Urwald trifft sie damit erwartungsgemäß nur auf wenig Verständnis. Eine der frühen Kameraeinstellungen in Jane Campions Das Piano (1993) ahnt das mit großer Symbolkraft voraus: Da sitzen Mutter und Tochter zusammen mit dem Klavier einsam am Meer, gestrandet in doppelter Hinsicht. Das Instrument wirkt fern der Heimat wie ein absurder Fremdkörper. Ada ist ohnehin nur gegen ihren Willen hier, um mit einem Mann zwangsverheiratet zu werden, den sie nicht kennt. Und der verspürt nur wenig Lust, das Klavier durch den morastigen Urwald – ein weiteres Symbol des Steckenbleibens – in das neue Zuhause zu befördern. Und damit ist die arrangierte Ehe gescheitert, noch bevor sie begonnen hat, denn der Siedler Stewart (Sam Neill) hat verkannt, welche fundamentale Bedeutung das Instrument für seine junge Frau besitzt. Adas langer Weg zur Selbstbestimmung führt deshalb nur über einen eigenwilligen Deal mit dem Nachbarn George (Harvey Keitel), der das Klavier in seine Hütte gebracht hat. Er will es ihr Taste für Taste zurückgeben, wenn er ihr beim Spiel zuhören und sie dabei berühren darf. Widerwillig, doch überraschend schnell lässt sich Ada auf den seltsamen Handel ein.

Dass sie dies tut, gehört zu den durchaus umstrittenen Aspekten von Jane Campions ansonsten weltweit gefeiertem Filmdrama. Warum soll der Weg zur weiblichen Selbstbestimmung ausgerechnet darüber führen, sich an einen Mann zu verkaufen? Eine berechtigte Frage. Auf den ersten Blick taugt Ada tatsächlich nicht als Vorbild für das Streben nach Gleichberechtigung. Doch ganz so einfach ist es nicht. Das Klavier gehört nämlich so untrennbar zu ihrem Wesen, dass sie keine andere Wahl sieht, als es unbedingt zurückgewinnen zu wollen. Und um dieses Ziel zu erreichen, ist ihr jedes Mittel recht. Viele Optionen bleiben Ada ohnehin nicht. Und natürlich entwickelt sich der „Deal“ mit George rasch zu einem subtil-erotischen Spiel, das mit echter Prostitution nur wenig verbindet. Doch vielleicht tut man sich mit Adas Handeln auch deshalb so schwer, weil es sich eben nicht einfach mit Worten erklären lässt. Um ihre Seele zu ergründen, bleibt dem Zuschauer letztlich nur das Klavierspiel. „Sie spielt das Klavier nicht so wie wir es spielen“ heißt es einmal missgünstig im Film. Doch diese Einschätzung stimmt durchaus, denn der anachronistische Minimalismus Michael Nymans verleiht Ada eine ganz besondere Stimme, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Seine bzw. Adas Musik ist ein Affront gegen die zeitgenössische Gesellschaft, wird zum Sinnbild ihres Andersseins. Und es ist gleichzeitig ein Kontrast, aus dem Jane Campions Film auf non-diegetischer Ebene seine spezielle poetische Kraft schöpft.

Anna Paquin und Holly Hunter in „The Piano“

Man könnte meinen, dass ein Film, bei dem dem Spiel des titelgebenden Instruments eine so große Bedeutung zukommt und die Musik so viel Entfaltungsraum besitzt, prädestiniert für ein Filmkonzert wäre. Doch die Eröffnung des 33. Braunschweiger Filmfestivals in der fast ausverkauften Stadthalle zeigte, dass die Wahrheit komplizierter ist. Zwar spielte das Braunschweiger Staatsorchester unter der Leitung von Andrew Berryman die betörende Nyman-Musik mit hoher Souveränität sehr nahe am Original und schuf damit mühelos den eigensinnig-versponnenen Sog, der Campions Film auszeichnet. Doch dass die im Film von Holly Hunter selbst gespielten Klavierparts meist von der originalen Tonspur stammten, war angesichts der Rolle, die diese Soli im Film einnehmen, dann doch etwas enttäuschend. Dieser Umstand fiel nicht nur deshalb ins Gewicht, weil die Balance zwischen Tonspur und Orchester dieses Mal nicht ganz so bruchlos gelang wie noch in den Jahren zuvor, sondern auch, weil Jane Campion Musik im Film sehr ökonomisch einsetzt, sodass das Orchester nur wenig zu tun hatte.

Und so ist die Bedeutung des Wiederentdeckens von Das Piano für ein junges Publikum vielleicht entscheidender als die Aufführung als Filmkonzert selbst – so schön es auch ist, die Musik live zu erleben. 1993 war Jane Campion noch eine der wenigen Frauen in einer überwiegend von Männern dominierten Filmwelt. Das hat sich mittlerweile erfreulicherweise zumindest etwas geändert. Mit Ada hat die Australierin damals aber dennoch eine starke Frauenfigur geschaffen, die sich in keine ideologischen Schubladen stecken lässt und in ihrem Wesen gleichermaßen berührt, wie unergründlich bleibt. In einer Zeit, die viel zu oft nach eindeutigen Zuschreibungen und einfachen Etiketten schreit, ist diese Vielschichtigkeit geradezu eine Wohltat, weil sie sich traut, Fragen offenzulassen. Ada spricht zu uns nicht mit Worten, sondern mit ihrem Klavierspiel. Musik und Bilder ersetzen das Gesprochene, fordern uns heraus. Und was für ein besseres Symbol könnte es für den Start eines Filmfestivals geben?

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