Wenn man als Festivalbesucher viele Filme in wenigen Tagen sieht, könnte man glauben, dass einzelne Filme schnell in Vergessenheit geraten, Inhalte verschwimmen oder Ähnliches. Erstaunlicherweise ist dies nicht unbedingt der Fall. Wenn die Filme derart fesseln und ihre eigene Filmwelt entfalten, wie es Zwei Leben, I am Nasrine oder Inuk tun, so wirken diese auch noch Tage später nach.
Zwei Leben (Deutschland 2012)
Den starken Eindruck, den gerade aktuelle Filme aus Deutschland beim Braunschweiger Filmfest hinterlassen, wird von Zwei Leben bestätigt. Georg Maas widmet sich in dem Drama einem weniger bekannten Kapitel deutsch-norwegischer Geschichte: Während des Zweiten Weltkrieges wurden unter deutscher Besatzung zahlreiche deutsch-norwegische Kinder geboren. Während einige von ihnen durch die Nazis nach Deutschland verschleppt wurden und in Heimen aufwuchsen, wurden die anderen in Norwegen als Menschen zweiter Klasse behandelt. Einige gelang es später, ihre Mutter wieder finden, anderen nicht.
Eine junge Frau (Julianne Köhler), die es auf diese Weise geschafft hat, sich in Bergen ein neues Leben aufzubauen, ist Katrine, die mit Mann, Mutter (Liv Ullmann) und Tochter samt Enkelkind quasi unter einem Dach lebt. Nach dem Fall der Mauer wird sie jedoch mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, die ein dunkles Geheimnis birgt. Zwei Leben, lose auf dem Roman ‚Eiszeiten‘ von Hannelore Hippe basierend, kreist um Fragen nach Identität und Wahrheit. Nach eigenen Aussagen war es zugleich aber auch Ansinnen des Regisseurs, Figuren zu zeichnen, die sich einer eindeutigen Wertung seitens des Zuschauers entziehen. Tatsächlich entwirft der Film ein komplexes, beklemmendes Szenario, das keine einfachen Lösungen zulässt. Die konzentrierte, dichte Inszenierung lässt ob der Nähe zur belegten deutschen Historie ein ums andere Mal frösteln. Wenn man von der etwas verunglückten Finalszene einmal absieht, ist Zwei Leben einer der stärksten Filme des diesjährigen Filmfests in Braunschweig.
Die kleine Kartäuserin (Frankreich 2005)
Mit dem Europäischen Filmpreis, der „Europa“, wird in diesem Jahr in Braunschweig der französische Schauspieler Olivier Gourmet geehrt, der vor allem durch sein preisgekröntes Spiel in den Sozialdramen der Dardenne-Brüder bekannt wurde (Der Sohn). Ein in Deutschland bislang kaum bekannter Film des Darstellers ist die Romanverfilmung Die kleine Kartäuserin nach dem gleichnamigen Buch von Pierre Péju. Der Film von Jean-Pierre Denis erzählt von einem Buchhändler (Gourmet), der bei einem Unfall ein kleines Mädchen anfährt. Der einsame Mann kümmert sich fortan rührend um das Kind, weil die Mutter dazu nicht in der Lage oder Willens ist.
Die Romane von Péju sind von einem eigentümlichen, zum Teil sehr melancholischen, immer wieder aber auch zutiefst menschlichen Weltbild geprägt. So verwundert es wenig, dass Die kleine Kartäuserin in der Ausgestaltung der Handlung doch deutlich von ähnlichen Geschichten über ungewöhnliche Freundschaften abweicht. Der in Teilen märchenhafte Film berührt, ohne jemals ins Verkitscht-Melodramatische abzugleiten. Einen Großteil seiner Wirkung verdankt er den exzellenten Darstellern, allen voran Olivier Gourmet, der seine Figur ungemein vielschichtig und dreidimensional anlegt. Es sind kleine, sympathische Rollen wie diese, die ihn zu einem verdienten Preisträger der „Europa“ machen.