Tag 2: In den Fängen des Alltags

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Neon Bull (Brasilien 2015)

Der Brasilianische Spielfilm Neon Bull entführt seine Zuschauer in das ungewöhnliche Milieu der traditionellen Rodeos, in Brasilien „Vaquejada“ genannt: In einer Art modernem Nomadentum reisen Iramar, seine Chefin samt Tochter und einige Helfer von Wettkampf zu Wettkampf. Die Bullen sind immer präsent, ob beim Essen, bei der Arbeit oder sogar beim Sex, denn das enge Zusammenleben im Wohnwagen erlaubt keine Privatsphäre. Iramar hat aber eigentlich andere Träume jenseits der Arbeit mit den Tieren: Er will Modedesigner werden. Doch das ist und bleibt nur ein Traum.

Gabriel Mascaro erzählt in einem ruhigen, fast dokumentarischen Stil von Menschen, die ohne Zukunftsperspektive in einem festem System von Arbeit gefangen scheinen. Es ist eine archaische Welt, die im Grunde stillsteht, dabei keine oder kaum Entwicklung zulässt und für seine Figuren keine Chancen bereithält. So verzichtet der Film zwangsläufig auf eine Handlungsdramaturgie im klassischen Sinne. Das mag zwar realistisch sein, führt aber gleichzeitig zur Frage, warum Mascaro nicht gleich eine Dokumentation gedreht hat. Besonders irritierend sind in diesem Zusammenhang die expliziten Sexszenen: Gegen Ende beobachtet die Kamera minutenlang Iramar beim Liebesspiel mit einer Schwangeren. Diese Szene ist im Halbdunkeln elegant gefilmt, wirkt aber auch fast ein wenig so, als hätte Mascaro der Wirkung seines eigenen Filmes nicht ganz vertraut.

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Margarita with a Straw (Indien 2014)

Ein erstaunlicher Festivalfilm ist Margarita with a Straw von der Indischen Regisseurin Shonali Bose. Sie erzählt unverkrampft und mit großer Leichtigkeit von der jungen Studentin Laila (herausragend: Kalki Koechlin), die unter Zerebralparese, einer motorischen Störung, leidet. Obwohl sie auf den Rollstuhl angewiesen ist, meistert sie ihren Lebensalltag auf bemerkenswerte Weise. Als sie ein Stipendium für eine New Yorker Uni erhält, muss sie ihre Familie in Indien zurücklassen und sich in den USA in einem neuen Lebensumfeld beweisen.

Margarita with a Straw gelingt es auf erfrischende Art und Weise, die üblichen Klischees in Filmen über Menschen mit Behinderung zu vermeiden. Dafür ist der Ausgangspunkt des Filmes schlichtweg ein anderer: Laila ist weder hilflos noch mangelt es ihr an Selbstbewusstsein. Und so geht es weniger um die Frage, wie Laila mit ihrer Behinderung zurechtkommt, als darum, wie sie sich und die eigene Sexualität entdeckt. Man mag Shonali Bose vorwerfen, dass in ihrem Film vielleicht alles eine Spur zu einfach und problemlos gelingt, dass sich alle Konflikte zu schnell in Wohlgefallen auflösen. Doch es ist genau dieser Verzicht auf die üblichen Drehbuchklischees zusammen mit dem wunderbaren Spiel der Hauptdarstellerin, die Margarita with a Straw zu einem entwaffnenden Filmerlebnis machen.

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Keeper (Belgien 2015)

Wenn Kinder Kinder kriegen: Das Belgische Drama Keeper porträtiert das junge Paar Maxime und Mel – beide fünfzehn – deren Beziehung auf eine harte Probe gestellt wird, als Mel erfährt, dass sie schwanger ist. Als sich beide für das Kind entscheiden, müssen sie jedoch schnell feststellen, dass eine solche Entscheidung weitreichende Konsequenzen nach sich zieht. Maxime kann seine Karriere als Fußballtorhüter nicht fortführen und Mel steht unter dem Druck ihrer Mutter, die eine schnelle Abtreibung als einzige Lösung ansieht.

Guillaume Senez erzählt durchaus einfühlsam und glaubwürdig von den Nöten zweier Teenager, die zwar für das ungeborene Leben Verantwortung übernehmen wollen, aber eben noch selbst Kinder sind. Trotz des ernsten Tonfalls der Inszenierung drängt sich jedoch ein Vergleich zu ähnlichen Filmen wie Juno oder 17 Mädchen auf, die ebenfalls ungewollte Schwangerschaften verhandeln. Im Grunde weiß Keeper dem Thema nämlich kaum neue Erkenntnisse abzugewinnen. Auch filmisch bleibt sein Drama eher konventionell, beinahe fernsehspielhaft. Und das ist am Ende dann doch ein bisschen zu wenig, um im Wettbewerb um den Publikumspreis gegen die starke Konkurrenz bestehen zu können.

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Köpek (Schweiz/Türkei 2015)

Einer der besonders eindringlichen Wettbewerbsfilme des Jahrgangs 2015 kommt aus der Schweiz. Esen Isek erzählt in ihrem Kinofilmdebüt Köpek in drei parallelen Handlungssträngen von einem Tag in der Millionenmetropole Istanbul: Der zehnjährige Cemo schwänzt die Schule und rettet mit seinem Freund einem Hundewelpen das Leben. Die verheiratete Hayat trifft sich heimlich mit einer alten Jugendliebe und die transsexuelle Ebru muss sich den Anfeindungen homophober Istanbuler zur Wehr setzen.

Esen Isek legt mit ihrem Film den Finger tief in die Wunde aktueller Probleme der türkischen Gesellschaft. Ob häusliche Gewalt bis hin zum Ehrenmord, die von der Polizei geduldet und toleriert wird, Kinderarbeit in Familien unter der Armutsgrenze oder eben die homophobe Intoleranz gegenüber Lebensentwürfen, die nicht der akzeptierten Norm entsprechen. Es ist ein Istanbul jenseits der Touristenpfade, dass Köpek mit seiner episodenhaften Erzählform in eindrucksvollen Bildern zeigt. Es ist ein Film, der verzweifelt nach einem gesellschaftlichen Wandel schreit. Allein mit der gegenwärtigen Regierung ist dieser wohl kaum zu machen.