Es gehört zu den Eigenheiten eines Filmfests, dass auch vor dem Eröffnungsfilm bereits Filmvorführungen stattfinden. In manchem Fall stattfinden sollte. Denn die Kopie des ersten Films Wrong Rosary, der auf meinem Programm steht, wurde vom Filmfestival in Frankfurt versehentlich nach Wien geschickt. Das Türkische Familiendrama Pandora’s Box wird als Ersatz eingesetzt. Der Vorfilm läuft an, die Buchstaben erscheinen auf Kyrillisch auf der Leinwand, wie ein Zuschauer einwirft. Tatsächlich läuft die Filmrolle falsch herum ab. Der Vorfilm entfällt. Kurze Zeit später startet Pandora’s Box. Die erste Einstellung zeigt den Jugendlichen Murat, wie er sich am Bosporus eine Zigarette anzündet, leider aber ohne Ton. Nach einer weiteren kleinen Verzögerung ist auch dieses kleine Problem behoben. Das 23. Internationale Filmfest in Braunschweig kann beginnen…
Pandora’s Box – Pandora’Nin Kutusu (Türkei 2008)
Die Türkische Regisseurin Yesim Ustaoglu, die 1999 für ihren Debütfilm Reise der Sonne mit dem Internationalen Friedenspreis ausgezeichnet wurde, erzählt in ihrem neuen Film von einer 90jährigen Oma, die in einem kleinen Bergdorf am Schwarzen Meer spurlos verschwindet. Ihre Kinder, die in Istanbul ein so modernes wie hektisches Leben führen, machen sich auf, die Mutter zu suchen. Als sie sie finden, nehmen sie die Alzheimer-kranke Frau mit zu sich nach Istanbul. Doch in der fremden Metropole findet sich die Mutter nicht zurecht, die Kinder haben kaum Zeit für sie. Es kommt zu Streitereien. Erst dem rebellischen Enkel Murat gelingt es, sich der Großmutter respekt- und liebevoll zu nähern.
Yesim Ustaoglu gelingt ein präzise beobachtetes Psychogramm einer zerrütteten Familie, deren Probleme durch die Krankheit der Großmutter zu Tage gefördert werden. Möglicherweise stellt die Inszenierung etwas zu plakativ die kalt-grau stilisierten Bilder der anonymen Hochhaussiedlungen in Istanbul dem satten Grün der Bergwiesen gegenüber. Doch dieser Kontrast steht stellvertretend für den Generationenkonflikt, wie er nicht nur typisch für die Türkei ist. Pandora’s Box kreist um universelle Themen wie Alter, Entwurzelung und das Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne. Es zeichnet den Film aus, dass er dies mit leisem Humor tut, ohne jemals belehrend zu sein. Mit der rührenden Annäherung des Enkels an die Großmutter endet der einfühlsame Film auf einer hoffnungsvollen Note.
66/67 – Fairplay war gestern (Deutschland 2008)
Gewalt in und rund um Fußballstadien ist auch im Jahr 2009 leider noch ein alltägliches Phänomen, welches nicht zuletzt in den unteren Ligen häufig ein ernstes Problem darstellt, dem sich die Vereine oftmals nicht vehement genug entgegen stellen. Insofern ist ein Film wie 66/67 – Fairplay war gestern, der das Leben einer Gruppe gewaltbereiter „Eintracht Braunschweig“-Fans in seinen Mittelpunkt stellt, ein wichtiger Beitrag zur notwendigen Diskussion. Den beiden Regisseuren Carsten Ludwig & Jan-Christoph Glaser gelingt es vorzüglich, die Mechanismen zu durchleuchten, die das Verhältnis der eingeschworenen Fans untereinander aber auch zur Außenwelt bestimmen. Die Gruppe wirkt wie ein Organismus, bei dem der eine scheinbar nicht ohne den anderen leben kann und die Gemeinschaft einem alle schier erdrückenden Gruppenzwang unterliegt. Da wird schon derjenige in Frage gestellt, der mal nicht telefonisch erreichbar ist. Abtrünnige werden penetrant verfolgt und Frauen haben sich ohnehin der „großen Sache“, der Eintracht, unterzuordnen.
All dies gilt aber sicher nicht nur für militante Fußballfans, sondern auch analog für kriminelle Sekten und extremistische Gruppierungen. Und da fangen die Probleme von 66/67: an: Das Besondere des Fußballkontextes, sofern überhaupt existent, wird nicht eingefangen. So wirkt das „Fansein“ hier mehr wie eine publikumswirksame Staffage für eine neuerliche Aufbereitung des alten Themas „Gruppendynamik“. 66/67 solle laut der Regisseure kein belehrender Film sein. Dennoch gerät der Spagat zwischen komödiantischen Elementen und der Hooligan-Problematik oftmals unglücklich. Die Folgen der ausgeübten Gewalt für die Opfer werden dabei nur inkonsequent ausgeleuchtet, so dass das ehrenwerte Anliegen der Regisseure zwangsläufig verwässert wird. Man kann den Kinosaal kaum verlassen, ohne zumindest etwas Sympathie für die Figuren zu empfinden. Und spätestens dann ist etwas schiefgelaufen. Am Ende wünschte man sich, dass 66/67 der in den Eröffnungsreden angekündigte düstere und unangenehme Film geworden wäre. Davon ist der beim Züricher Filmfestival als beste deutschsprachiger Produktion prämierte Streifen dann doch weit entfernt.