Fesselnde Agitation – Panzerkreuzer Potemkin eröffnet Filmfestival in Braunschweig

Sergei Eisensteins berühmter Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin von 1925 wurde bereits oft vertont. Nachdem die Erstaufführung noch mit Werken klassischer Komponisten unterlegt wurde, hat Edmund Meisel (Berlin – Die Sinfonie der Großstadt) für die deutsche Premiere 1926 eine eigene Musik beigesteuert. Doch wie so oft im Stummfilm gilt: die eine „echte“ Filmmusik gibt es nicht. Seit 1926 haben sich deshalb immer wieder unterschiedliche Komponisten am großen Filmmusik-Klassiker versucht: darunter der Pianist Chris Jarrett und sogar die Pet Shop Boys. Eine der jüngeren Vertonungen aus dem Jahr 2005 stammt vom Amerikaner Yati Durant, der seine Arbeit in der Tradition moderner Kompositionen nach 1950 sieht.

Yati Durant

Die Perspektive seiner Musik ist deshalb zwangsläufig die der Neuinterpretation aus heutiger Sicht. War Eisensteins Film in der Entstehungszeit als Mittel zur politischen Agitation gedacht, reflektiert Durants Arbeit diese Rolle aus zeitlicher Distanz. Ähnlich wie Meisel nutzt er das Stilmittel der Illustration und lässt sich in Teilen von dessen Vertonung inspirieren: So stehen etwa in beiden Musiken die militärischen Trommelrhythmen für die grausame Härte der ihre Macht missbrauchenden Offiziere an Bord des Schiffes. Doch Durant setzt zugleich schärfere Akzente: Der Einsatz von fahlen Klangfarben und Dissonanzen versinnbildlicht stärker als Meisel das faule Fleisch, welches die Matrosen zum Fraß vorgesetzt bekommen. Und die filmhistorisch einflussreiche Treppenszene begleitet er mit einem orchestralen Tumult, der das ganze Chaos und den irrsinnigen Taumel dieser Sequenz weit über die einfache propagandistische Funktion hinaus nachzeichnet.  Wo Meisels ebenfalls exzellente Musik im Vergleich direkter erscheint, arbeitet Durant immer wieder mit unterschwelligen Zwischentönen. Dies fällt nicht zuletzt in den wenigen leichteren Momenten der frühen Odessa-Szenen auf, in denen Durant zwar mit seufzenden Violinen die Solidarität der Menschen zelebriert, aber mit dissonanten Akzenten nicht nur das Kommende andeutet, sondern auch einen geschickten Kontrapunkt zur von Eisenstein intendierten Agitation setzt.

Original-Filmplakat

Und die hat es in sich: Die Nahaufnahmen der angesichts der Gewalt entsetzten Menschen, ihre Gesichter zu Fratzen entstellt. Die kongeniale Inszenierung von rastloser Bewegung. Und im Kontrast dazu die unheilschwangeren Nachteinstellungen: Sie können hier ihre volle Wirkung entfalten, ohne dass der Blick von heute verloren ginge. Und so eröffnet sich durch die Musik eine hochinteressante Metaebene, die Eisensteins suggestive Bildsprache mit ihrer visionären Montage ebenso wenig kaputt macht, wie sie sie vorbehaltlos stehen lässt. Damit ist der große Stummfilm auch im Jahr 2018, in dem sich der Kieler Matrosenaufstand zum hundertsten Mal jährt, absolut geeignet, ein internationales Filmfestival zu eröffnen. Und nicht zuletzt durch das kraftvolle Spiel des Braunschweiger Staatsorchesters unter Leitung des Komponisten wurde die Aufführung zu einer gleichermaßen packenden wie intensiven filmischen Erfahrung.

(Der Film lief in der Reihe „1916-1923 – Krieg und Aufbruch in eine neue Zeit“; weitere Filmkonzerte in der Reihe zeigten J’accuse von Abel Gance und Im Westen nichts Neues von Lewis Milestone)




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