„Nichts ist gut“ – Wildfire

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Gleich die erste Kamera-Einstellung nach dem Vorspann setzt auf spektakuläre Weise den Ton für den gesamten Film: Da steht eine junge Frau allein an der Reling eines Schiffes. Die Kamera fährt langsam zurück und offenbart in der Totalen die übermächtigen Dimensionen eines großen Fährschiffs auf hoher See. Es ist eine symbolhafte Szenerie, deren Aufgewühltheit und Intensität Cathy Bradys erster Langfilm Wildfire bis zum Ende nicht mehr verlieren wird. Bei der jungen Frau, die hier mit größeren Kräften hadert, handelt es sich um die vermisste Kelly (Nika McGuigan), die einst aus ihrer Heimat weggelaufen ist. Nun kehrt sie in ihren Geburtsort in der nordirischen Grenzregion zurück und steht unvermittelt bei ihrer Schwester Lauren (Nora-Jane Noone) vor der Tür. Doch die grenzenlose Freude über das Wiedersehen währt nur kurz. Kelly offenbart ein gehetztes, impulsives Verhalten, buddelt kurzerhand im Garten nachts ein Gemüsebeet aus und gerät ständig mit ihrer Umwelt in Konflikt. Es ist der Unfalltod der Mutter, der unverarbeitet zwischen den beiden Schwestern steht und der alte Wunden wieder aufreißen lässt. Und auch Lauren kann den Anschein von Normalität nicht länger aufrechterhalten. Die Wut über das Vergangene, aber auch die enge Beziehung zu Kelly fordern ihren Tribut.

Cathy Brady bettet diese sehr persönliche Geschichte auf bemerkenswerte Weise in den historischen Kontext der Region ein: Der nicht aufgearbeitete Nordirland-Konflikt ist immer noch präsent. Graffiti an den Wänden fordern Einheit mit Irland. Alte freigelassene IRA-Kämpfer laufen frei herum. Und nach dem Brexit ist der sicher geglaubte Status Quo fragil geworden, droht schlimmstenfalls ein Wiederaufflammen des Terrors, sollten die Grenzen nicht offen bleiben. Die Unsicherheit der Menschen wächst. Das Politische drängt hier zwangsläufig ins Private, lässt Leben von innen erodieren. „Bin ich eine Verrückte?“, fragt Kelly einmal ihre Schwester. Die antwortet: „Nein, es ist die Stadt“. Und so zerreiben sich beide: an sich, an der traumatischen Vergangenheit und den Spannungen der Gegenwart. Nika McGuigan (die tragischerweise kurz nach den Dreharbeiten an Krebs verstarb) und Nora-Jane Noone spielen das mit furioser Emotionalität. Wie zwei Fixsterne kreisen sie umeinander und drohen an der Nähe zu verglühen. Auch die suggestive Kamera zieht immer weiter in diesen unvermeidlichen Strudel. In einer schillernden Schlüsselszene tanzen Kelly und Lauren in einer Bar zu Van Morrisons „Gloria“. Es ist ein exzessiver, in gewisser Weise kathartischer, aber auch destruktiver Tanz, der die Schwestern immer enger aneinander bindet.

Doch es sind nicht nur die herausragenden Schauspielerinnen, die den Film tragen. Eine große Stärke von Wildfire ist es, sich nie in einfache Antworten zu flüchten. Es gibt kein Heilsversprechen, keine Psychotherapie, nach der alles wieder gut wäre. Der Schatten der Vergangenheit wird hier nie gänzlich verschwinden. Es ist ein großer Verdienst der Regisseurin, diesen ständigen Zustand der Anspannung, den die Region und ihre Menschen seit Jahrzehnten prägt, audiovisuell auf den Zuschauer zu übertragen. Die Trauer- und Vergangenheitsbewältigung bleibt hier keine bloße Behauptung, sondern entwickelt eine drängende Präsenz. Die Virtuosität, mit der Cathy Brady dieses komplexe Spannungsfeld in ihrem Langfilm-Debüt einfängt und dabei jegliche Stereotypen vermeidet, beeindruckt und macht Wildfire zu einem rauen Diamanten, den man so schnell nicht wieder vergisst.

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