„Ein schwarzer Skin“ – Farming

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Der Begriff „Farming“ bezeichnet ein hierzulande kaum bekanntes Kapitel englischer Geschichte. Nachdem England seine Kolonie Nigeria 1960 in die Unabhängigkeit entlassen hatte, gab es im westafrikanischen Land viele vakante Regierungsposten, die neu besetzt werden mussten. Weil den meisten Westafrikanern dafür aber die notwendige Qualifikation fehlte, migrierten einige von ihnen mit ihren Familien nach England, um dort zu studieren. Die Kinder nahm man natürlich mit. Da aber für die Erziehung keine Zeit blieb, brachte man den Nachwuchs gegen Bezahlung bei britischen Pflegefamilien unter. In vielen Fällen wurde daraus sogar eine Lösung für immer.

Eines dieser vielen Kinder war der Schauspieler Adewale Akinnuoye-Agbaje (Lost, Suicide Squad), der in seinem Regiedebüt Farming, die Geschichte seiner Jugend verarbeitet. Im Mittelpunkt steht Enitan, der in den späten 60er Jahre bei einer Arbeiterklasse-Familie im Londoner Hafenviertel Tilbury aufwächst, während seine Eltern Jura studieren. Doch die Pflegefamilie entpuppt sich als liebloses Umfeld: Die Mutter Ingrid (Kate Beckinsale) hortet ihre Zöglinge wie Püppchen, ohne sich ernsthaft um sie zu kümmern. Ihr geht es vor allem um das leicht verdiente Geld. Und auch ihr Mann interessiert sich wenig für den Nachwuchs. Er schickt Enitan nach einem rassistischen Überfall durch Mitschüler gleich wieder zurück auf die Straße. Er solle doch bitte lernen, zurückzuschlagen und für sich selbst einzustehen.

Enitan wächst in einem unverhohlenen rassistischen Klima zum Jugendlichen heran. Die ständigen Diskriminierungen, Gewalterfahrungen und die fehlende Anerkennung lassen ihn immer weiter verrohen. Schließlich kommt es zum Pakt mit dem Teufel: Völlig gebrochen von den unzähligen Demütigungen, die Akinnuoye-Agbaje mit schonungsloser Härte inszeniert, schließt sich Enitan den Tilbury-Skins an, einer üblen rechten Schlägertruppe, die die Dockviertel in den 80er Jahren tyrannisierte. Doch die Gewaltspirale dreht sich unbarmherzig weiter. Nur eine Lehrerin gibt die Hoffnung nicht auf und versucht Enitan zum Ausstieg aus der Szene zu bewegen.

Im Grunde erzählt Farming einmal mehr die Geschichte eines Jugendlichen, der unter schweren Bedingungen groß wird, auf den falschen Weg gerät und am Tiefpunkt seines Lebens vor der Entscheidung steht, wie es mit ihm weitergehen soll. Doch der Film taugt nur bedingt als cineastisches Erbauungskino. Zu drastisch und kompromisslos erzählt Farming vom alltäglichen Rassismus, porträtiert in kraftvollen Bildern die ungehemmte, von Bier, Schweiß und Irrsinn getränkte Gewalt auf den Straßen der Dockviertel. John Dagleish spielt den Anführer der Tilbury Skins mit einem linkischen „Clockwork Orange“-verdächtigen Charisma, dass es einem als Zuschauer kalt den Rücken herunterläuft. Und wenn Enitan (nicht weniger eindrucksvoll: Damson Idris) schließlich als Afrikaner bei den Rechten mitläuft und die dumpfen Parolen genauso reflexartig brüllt wie die Skins, die ihn eben noch lustvoll malträtiert haben, entwickelt sich eine Absurdität des Wahnsinns, die geradezu fassungslos macht.

Akinnuoye-Agbaje fasst die Reise Enitans, die an dieser Stelle natürlich noch nicht endet, in fieberhafte energetische Bilder, die immer wieder an die Grenze des Erträglichen gehen. Als Zuschauer mag man kaum glauben, dass aus dieser erbarmungslosen Gewaltspirale ein Weg herausführen soll. Und doch ist Farming ein zwar harter, aber nie seine Hoffnung verlierender Film. Exzellent gespielt, mitreißend inszeniert und mit einer großartigen Geschichte zählt das intensive Drama deshalb schon jetzt zu den stärksten Filmen des Festivaljahrgangs 2019 und darf sich berechtigte Hoffnung auf den ein oder anderen Preis am Ende machen.

(Reihe: Wettbewerb)

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