Charlie Chaplin in Kiel:
The Kid & Idle Class

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Charlie Chaplin & Jackie Coogan in The Kid

Zwei Klassiker der Stummfilmära konzertant in Kiel: Charlie Chaplins erster Langfilm The Kid von 1921 und der im gleichen Jahr entstandene Kurzfilm Idle Class – Die feinen Leute wurden Anfang April mit Orchesterbegleitung im fast ausverkauften Kieler Schloss live projiziert. Es sind zwei Filme, die den Komiker von unterschiedlichen Seiten zeigen: The Idle Class ist eine frühe reinrassige Komödie mit viel Slapstick, in der Chaplin nicht nur als vagabundierender Tramp, sondern auch als dem Schnaps zugeneigter feiner Herr die Welt der „Schönen und Reichen“ auf die Schippe nimmt. In The Kid (in Deutschland besser unter Der Vagabund und das Kind bekannt) erlebt ihn der Zuschauer hingegen von seiner tragikomischen Seite: Chaplin, selbst in großer Armut aufgewachsen,  verarbeitet mit bittersüßem Humor die eigenen Kindheitserinnerungen und erzählt davon, wie der mittellose Tramp einen kleinen Jungen bei sich aufnimmt und großzieht, während die Mutter verzweifelt nach dem Kind sucht.

Obwohl beide in Kiel gezeigten Filme in wenigen Jahren ihren hundertsten Geburtstag feiern, sind die heute gängigen Fassungen in Wahrheit nicht ganz so alt: Denn 1971, ein halbes Jahrhundert nach ihrer Premiere,  legte der längst ergraute Chaplin im hohen Alter nochmals Hand an seine Werke. The Kid stutzte er radikal von 69 auf 50 Minuten Lauflänge, indem er solche Szenen kürzte, die er für zu sentimental hielt. Zugleich schuf er für beide Filme erstmals eine originale Filmmusik. Wer die Kieler Philharmoniker unter Leitung ihres Dirigenten Daniel Carlberg die beiden frühen Chaplin-Filme begleiten sah, der erlebte sie deshalb völlig anders als das Publikum in den „Goldenen Zwanzigern“. Denn damals besaßen viele Stummfilme ebenso wie The Kid und Idle Class keine eigens für sie komponierte Vertonung. Stattdessen wurde an die Kinos eine Auflistung existierender Musikstücke in Szenenreihenfolge gesandt, die dann bei der Aufführung gespielt werden sollten. Die eine, fest mit dem Film verbundene Vertonung – das Ideal des in sich geschlossenen Filmwerks – das gab es noch nicht.  Die Erstellung der sogenannten „cue sheets“ hat Chaplin bei seinen Filmen angeblich immer höchstpersönlich überwacht ([1]). Dennoch liegt es nahe, dass in der Praxis vor allem in kleineren Kinos solche Vorgaben von den Stummfilmpianisten keinesfalls so streng befolgt wurden wie intendiert ([2]). Vermutlich nicht selten zum Unmut der Filmschaffenden, die befürchten mussten, dass ihre kreative Vision auf Tonebene falsch interpretiert wurde.

Daniel Carlberg & die Kieler Philharmoniker
(Foto: Mike Rumpf)

Vor diesem Hintergrund zeigen Chaplins neukomponierte Filmmusiken der 70er Jahre, welche große Bedeutung der Regisseur dem Zusammenspiel von Bild und Ton beigemessen hat.  Offenbar war ihm bewusst, wie sehr ein gut getimter Musikeinsatz die Wirkung eines Filmes zu steigern vermag. Natürlich konnte er kaum ahnen, dass die auf diese Weise festgezurrten Musiken die Rezeption der Filme für Jahrzehnte bestimmen würden. Aber so ist es gekommen und das sicher nicht zu Unrecht. Denn Chaplins Filmmusiken schmiegen sich so eng an die Bilder, dass man denken könnte, sie wären schon immer dagewesen. Der Orchestergalopp zum einfahrenden Zug in The Idle Class, die walzerseligen Streichermelodien und die temperamentvollen Scherzi mit funkensprühender Perkussion in The Kid – das kommt mit solchem boulevardesken Charme und solcher spielerischen Leichtigkeit daher – dass man sich – einmal gehört – keine andere Musik mehr zu den Bildern vorstellen mag.

Charlie Chaplin als feiner Herr in Idle Class

Dabei wäre 1971 durchaus auch eine stärker am Zeitgeschmack ausgerichtete Musikkonzeption denkbar gewesen. Doch Chaplin vermeidet konsequent die Konventionen der Tonfilmära ebenso wie die Trends der frühen  70er Jahre. Ein eng mit den Bildern verzahntes Mickey Mousing oder die alleinige Illustration des Leinwandgeschehens sucht man bei ihm vergeblich. Chaplins Musik lotet mit ihrem ganz eigenen Charme und großer Einfühlsamkeit die Stimmungen der jeweiligen Filme aus. Die Tragik des Waisenkindes, das vom Tramp großgezogen wird, untermalt er mit elegischen Streicherharmonien, die sentimental erscheinen mögen, aber nie zu dick auftragen. Es ist diese feine Balance zwischen burleskem Varieté-Charme und anrührender Melodik, die zur besonderen Zeitlosigkeit der Chaplin-Filme beiträgt. Und das funktioniert auch noch im Jahr 2017 ungebrochen gut.  Nicht zuletzt, wenn die pfiffigen Musiken so souverän und mit solchem eleganten Schwung interpretiert werden wie von den Kieler Philharmonikern unter der Leitung Carlbergs. Das Publikum war begeistert und verließ den Saal getreu dem berühmten Eingangsmotto aus The Kid mit einem Lächeln und vielleicht auch einer Träne – „With a Smile and perhaps a Tear“.


Anmerkungen:

[1] Im Falle von The Kid hat Chaplin angeblich sogar 1921 bereits drei Themen komponiert. Ob er diese Themen 1971 in seiner Komposition wieder aufgegriffen hat, ist nicht bekannt.

[2] André Previn berichtet in seiner Autobiografie No Minor Chords anekdotenreich von seinen Anfängen als Stummfilmpianist und wie frei manche Werke in kleinen Kinos begleitet wurden.

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