Aurora – Oscar Fogelström: „Die Toten erheben sich“

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Am Anfang des philippinischen Gruselfilms Aurora steuert die Kamera in wilder Fahrt über das aufgewühlte Meer direkt auf das Land zu. An den Kliffen der philippinischen Küste ist das Passagierschiff „Aurora“ gekentert, ein tragisches Unglück, bei dem beinahe alle Passagiere ihr Leben ließen. Nun liegt das Schiff im Wasser, wie ein unheilschwangeres Menetekel. Die Küstenwacht hat die Suche nach den Überlebenden längst eingestellt und das Gebiet um die Aurora kurzerhand zur Sperrzone erklärt. Mit fatalen Folgen: Die Katastrophe hat den Tourismus und den lokalen Fischfang zum Erliegen gebracht. Viele Einheimische verlassen, ihrer Existenzgrundlage beraubt, die benachbarte Stadt. Zurück bleiben nur wenige Menschen, darunter die junge Leana (Anne Curtis) mit ihrer kleinen Schwester Rita. Leana betreibt nahe dem Unglücksort ein kleines Hotel, obwohl keine Gäste mehr zu erwarten sind. Trotzdem will sie ausharren. Immerhin erhält sie etwas Geld für jede angespülte Leiche, die sie findet. Lange warten muss sie nicht darauf, denn ganz gemäß dem mahnenden Choral „Surge Sursum“ (deutsch: „sich erheben“), den der schwedische Komponist Oscar Fogelström wie eine dunkle Prophezeiung seiner Filmmusik voranstellt, sichtet Leana plötzlich in alptraumhaften Visionen die Geister der Verstorbenen, die fortan ihr Hotel heimsuchen.

Yam Laranas entwickelt in Aurora ein überraschend sozialkritisches Setting für seine eigenwillige Geistergeschichte. Das mit Schlagseite im Meer liegende Schiff und der in Brand geratene Ölteppich wecken unweigerlich Erinnerungen an die Costa Concordia oder andere Havarien. Zu Beginn des Filmes vermittelt sich deshalb vor allem die unfassbare Trauer, die wie Blei auf den Seelen der Betroffenen lastet. Viele „Haunted House“-Geschichten spielen mit tragischen, meist weit zurückliegenden, Ereignissen. Doch Aurora geht mit diesem Element etwas anders um: Das Schiffsunglück und seine Nachwirkungen sind hier kein Ereignis, welches erst der Vergangenheit entrissen werden muss, sondern von äußerst akuter Präsenz. Auch die Darstellung der Trauerarbeit geht über gängige Genremuster hinaus, indem sie verschiedene Aspekte der Tragödie beleuchtet: Die Kamera zeigt die desillusionierten Einheimischen, wie sie ihre Läden verrammeln und fortgehen. Wir sehen die verzweifelten Familien, die ihre Toten nicht beerdigen können und schließlich ist da die zurückgebliebene Leana mit ihrem leeren Hotel, die, um über die Runden zu kommen, gezwungen ist, nach Leichen zu suchen, statt Gäste zu beherbergen. Handelsüblicher Genrehorror ist derart schwermütige Kost ganz sicher nicht.

Vielleicht lassen sich so auch die sehr verhaltenen Kritiken zum Film erklären, die mehr als einmal bemängelten, Aurora würde das Versprechen seines Spannungsaufbaus nicht einlösen, da „schlichtweg nichts passiere“ und der Handlung ein echter Antagonist fehle. Tatsächlich entzieht sich Aurora einschlägigen Erwartungen hinsichtlich Blutgehalt und Nervenkitzel. Vielleicht macht es deshalb auch mehr Sinn, den Film nicht als reinen Horrorschocker, sondern als morbides Requiem auf das tragische Unglück zu lesen, das Yam Laranas mit beeindruckender audiovisueller Wucht inszeniert. Noch mehr aber als die stilisierten, in blassen maritimen Farben gehaltenen Bilder und die rasanten Kamerafahrten voller Zeitraffer- und Jump-Cut-Effekte (mit denen der Film es mitunter etwas übertreibt), ist es die Filmmusik von Oscar Fogelström, die einen eindringlichen ästhetischen Rahmen für die Handlung setzt: Der schwedische Komponist orientiert sich dabei lose an Elementen der Totenmesse. Der Chor übernimmt nicht nur die Rolle des Trauergesangs zu Beginn und am Ende (Surge Sursum, Rise, Aurora), sondern gibt zugleich in schroffen Vokalisen den Opfern eine anklagende Stimme. Das Wogen der Wellen wird von den Streichern aufgegriffen, die sich mit Schlagwerk und Blech zu brachialen Eruptionen auftürmen. Nur für Lena und Rita gibt es ein zartes Motiv auf der Solovioline, das nicht nur für ihre Verletzlichkeit steht, sondern auch für das Gegenüber von fragilen Menschenseelen und der gewaltigen Naturgewalt des Meeres mit den wiederauferstehenden Toten.

bislang nur als Download verfügbar: Die Filmmusik von Oscar Fogelström

Oscar Fogelström lässt die Filmmusik mit vollem Bewusstsein und unbändigem Stilwillen in den Vordergrund drängen. In ihrer kühl-brachialen Kraft erzeugt sie eine erdrückende, geradezu niederschmetternde Atmosphäre. Der Einsatz der musikalischen Mittel ist fulminant: Während der formale Überbau mit Orchester und Chor an ein modernes Oratorium erinnert, tragen sorgfältig eingesetzte geräuschartige Effekte zur besonderen Wirkung bei: Es sind klirrende, manchmal auch aneinander schrammende metallische Klänge, die zusammen mit schwerem Blech und hämmernden Paukenschlägen zu einer genauso rauen wie fahlen Klanglandschaft fusionieren. Doch der Chor bleibt über die gesamte Dauer präsent, drängt sich immer wieder nach vorne, zeigt sich mal kreischend anklagend, mal beschwörend sirenenhaft und kehrt dann doch immer wieder zum alles bestimmenden Surge Sursum zurück. Es sind die Stimmen der Opfer und damit die Stimmen der Menschlichkeit, die sich hier symbolisch den Weg bahnen, wo im Film nahezu jede Menschlichkeit verloren gegangen scheint.

Es ist schon bemerkenswert, was sich Oscar Fogelström mit Aurora traut: Seine Musik verweigert sich konsequent den gängigen Hollywood-Stereotypen wie dem derzeit allgegenwärtigen Trend zum gesichtslosen atmosphärischen Underscoring. Sie steht selbstbewusst im Mittelpunkt, wird zu einem zentralen Charakter des Filmes. Sie verleiht der eigentümlichen philippinischen Schauermär eine künstlerische Integrität, die sie bereichert und überhaupt erst sehenswert macht. Umso trauriger und unverständlicher, dass der Film (der seit April 2019 auf Netflix abrufbar ist) und seine Filmmusik bislang praktisch völlig ignoriert wurden. Auch wenn Aurora stilistisch tatsächlich etwas unentschieden zwischen den Stühlen von Horror- und Arthouse-Kino stehen mag, ist dies ein Schicksal, dass der Film nicht verdient hat. Und wer die Filmmusik verpasst, dem entgeht eine der eindrucksvollsten Kinomusiken der letzten Jahre.

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