„Moderne Tragödie“ – Antigone

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Wenn Regisseure klassische Theaterstücke im Kino modern interpretieren, dann hat das oft etwas Aufgesetztes und Krampfhaftes. Nicht so bei Sophie DeRaspes Version von Antigone, die mit furioser Wucht auf die Gegenwart prallt. Die antike Heldin ist bei ihr eine junge Algerierin im Abschlussjahr, der eine glänzende Karriere bevorsteht. Doch auch sonst hat die Regisseurin die Tragödie von Sophokles kräftig umgekrempelt: Antigone lebt mit ihren drei Geschwistern und ihrer Großmutter Ismène nach der Flucht vor politischer Verfolgung im kanadischen Montreal. Als ihr Bruder Polyneikes bei einem über-harten Polizei-Einsatz erschossen und parallel dazu ihr zweiter Bruder Eteokles inhaftiert wird, beschließt Antigone, ihn durch eine List zu befreien. Obwohl das gelingt, fliegt der Schwindel auf und Antigone gerät nun ihrerseits in die Mühlen der Justiz. Sie muss wählen: zwischen der Loyalität zu ihrer Familie und ihrer eigenen persönlichen Freiheit.

Allein der Blick in das Gesicht Antigones zeigt, was dabei auf dem Spiel steht: die Verzweiflung, die Verletzlichkeit, den Stolz und die unbändige Wut angesichts dessen, was ihr widerfährt. Nahema Ricci spielt das mit beeindruckender Präsenz, die den Wandel von der begabten Schülerin zur aufbegehrenden Rebellin umso schmerzhafter erscheinen lässt. Doch das Drehbuch macht es weder ihr noch dem Zuschauer leicht. Zwar erinnert der Tod von Polyneikes an die Formen rassistischer Polizeigewalt, wie wir sie zuletzt 2020 im Fall von George Floyd in den USA erlebt haben. Doch auch Antigones Familie trifft eine Mitschuld: Ihre Brüder gehören nämlich den Habibis an, einer kriminellen Gang, die schon lange unter Polizei-Beobachtung steht. Auch wenn Antigone davon nichts wusste: Bei aller Liebe für ihre Geschwister hat sie viel zu lange die Augen davor verschlossen, woher das Geld für den Unterhalt der Familie tatsächlich stammt.

Sophie DeRaspe setzt mit ihrem Film genauso präzise wie wütende Nadelstiche in den Themenkomplex um Migration und Integration. Sie transformiert den antiken Stoff so bruchlos, dass man als Zuschauer – wären da nicht die originalen Namen – schnell vergessen könnte, es mit einer klassischen Tragödie zu tun zu haben. Virtuos überführt sie das individuelle Schicksal der Heldin in unsere moderne Welt. Die Rolle des griechischen Chors werden von Rap-Songs und Montagen mit Kurznachrichten aus den sozialen Netzwerken übernommen. „Das wird nicht Dein Urteil, sondern Dein Podium sein“ rät ein Anwalt Antigone. Und das ist Programm: Auf den anfänglichen Shitstorm im Web folgt schnell die Überhöhung Antigones zur modernen Joan D’Arc, deren Counterfeit ihre Anhänger in roten Graffitis an die Wände sprayen. Mit diesem Kunstgriff erweitert der Film raffiniert den Blick auf den öffentlichen Diskurs zwischen Rassismus und Schrei nach Gerechtigkeit. Der persönliche Konflikt wird zwangsläufig zu einem, der die gesamte Gesellschaft betrifft. Und auch das erinnert – wenn man so will – frappierend an die virale #blacklivesmatter-Bewegung von 2020.

Doch es nicht nur die kongeniale Adaption von Sophokles, die Antigone so herausragend macht: Es ist auch die fulminante Art und Weise, wie die Inszenierung den zentralen Konflikt emotional auflädt, ohne den ethischen Diskurs im Kern zu vernachlässigen, die zur eindringlichen Wirkung beiträgt. Und dann ist da noch etwas Anderes: Ganz nebenbei verdeutlicht Antigone nämlich, was es bedeutet, sich als Migranten im Exil auch nach Jahren noch als Fremdkörper zu fühlen, nicht die gleichen Chancen zu erhalten und keine Perspektive zu haben. Dass das so ist, wusste man als Zuschauer vielleicht schon vorher. Aber zu sehen, was es wirklich bedeutet und was es anrichten kann – das macht fassungslos.

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