Alias Grace – Mychael & Jeff Danna
„Die unübliche Verdächtige“

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Die Musik zur Netflix-Miniserie Alias Grace fühlt sich an wie ein undurchdringlicher Nebelschleier. Das passt vortrefflich zu der im 19. Jahrhundert angesiedelten Handlung um die wegen zweifachen Mordes verurteilte Grace Marks. Das junge Dienstmädchen breitet vor dem einfühlsamen Arzt Dr. Jordan ihre Lebensgeschichte aus. Und die steckt voller Leid: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter bei der Überfahrt nach Amerika verstorben und die beste Freundin Mary Whitney den Folgen einer illegalen Abtreibung erlegen. Und dann ist da eben besagter Mord an ihren Arbeitgebern, der Grace ins Gefängnis gebracht hat. „Der wirkliche Täter ist nicht immer derjenige, der den Dolch hält“ – erzählt sie einmal Dr. Jordan. Und tatsächlich inszeniert der Sechsteiler seine Hauptfigur als Spielball einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen sich unterzuordnen haben und stets auf der Hut vor triebgesteuerten Männern sein müssen. „Manchmal muss man eine kleine Lüge erzählen, nur um zu überleben“ erfährt Grace einmal von Mary Whitney. Deshalb verwundert es auch kaum, dass sich die Aussagen der angeblichen Mörderin vor Gericht und in den Sitzungen mit dem verständigen Arzt deutlich unterscheiden.

Schuldig oder Unschuldig? Grace Marks (Sarah Gadon)

Doch was ist wahr, was erfunden? Die Serie beginnt mit einer Einstellung der vor einem Spiegel sitzenden Grace, die ihr eigenes Bild in der Öffentlichkeit und die zahlreichen Attribute, die ihr zugeschrieben wurden, reflektiert. Und das ist vor allem eine männlich geprägte Projektion: eiskalte Mörderin, hintersinnige Verführerin oder vielleicht doch unschuldig? Bis zum Ende bleibt die Identität von Grace Marks für den Zuschauer ein großes Rätsel. Das Drehbuch nutzt das Stilmittel der „unzuverlässigen Erzählerin“ zu einem vielschichtigen Vexierspiel um Identität, Zuschreibungen und Wahrheitsfindung.  Das ist zwar durchaus ambitioniert gedacht, funktioniert in der Praxis jedoch nicht durchgehend. Denn gerade, weil sich die Handlung allem Eindeutigen konsequent verweigert, stehen sich die Erzählebenen gegenseitig im Weg. So locken einzelne Folgen mit einem Cliffhanger, der eine Zuspitzung des Krimiplots verspricht. Doch die finale Auflösung gerät in dieser Hinsicht ziemlich unbefriedigend. Schlimmer wiegt aber, dass das beklemmende Porträt einer mittellosen Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft davon konterkariert wird, dass man ihren Schilderungen nur bedingt trauen kann. So mangelt es Alias Grace trotz eindringlicher Momente an Präzision und Fokus – ganz gleich ob als Aufarbeitung eines historischen Kriminalfalls, als Charakterstudie oder wichtiger Beitrag zur aktuellen Sexismus-Debatte.

Die Musik von Jeff und Mychael Danna verweigert sich ebenfalls eindeutigen Zuordnungen. Das bewährte Duo unterstützt die in Rückblenden erzählte Passionsgeschichte mit einer intimen, kammermusikalischen Vertonung, die die Handlung stets mit angezogener Handbremse begleitet. Obwohl die Musik die Hauptfigur mit dem Spiel von Streichern und Holzbläsern zumeist in warmen Klangfarben charakterisiert, vermeidet sie die üblichen Kostümfilm-Klischees wie Tänze oder breit ausschwingende romantische Melodien. Dennoch gibt es ein filigranes Netz lyrischer Motive und Themen, die das Potenzial besäßen aufzublühen wie zum Beispiel das reizvolle Violinsolo in Grace in the Mirror. Doch sie können es nicht, weil letztendlich auch der Weg von Grace in ein besseres, selbstbestimmtes Leben verstellt bleibt. Die Musik besitzt stattdessen immer wieder einen abgründigen, „schleichenden“ Charakter. Es ist das Vordringen in die Psyche von Grace Marks, das Zurückkehren an Orte traumatischer Erfahrungen, welches die Vertonung geschickt evoziert. Das ominöse schritt-artige Motiv für Dr. Jordan mit seinem markanten Zusammenspiel von Klavier und Kontrabass oder das eigentümlich aparte Duett von Oboe und Querflöte in Quilts, welches das Leitthema für Mary einführt (lange bevor wir sie sehen), stechen dabei besonders hervor.

Verständiger Arzt oder doch nicht? Dr. Jordan (Edward Holcroft)

Gleichzeitig spiegelt die Komposition aber auch die Schwächen der Vorlage: Der Mangel an Dynamik, Entwicklung und Fokus der Inszenierung überträgt sich zwangsläufig auf die Tonebene. Die Musik oszilliert zwar auf interessante Weise um das zentrale Rätsel der Filmhandlung, darf aber leider nie mehr sein als das. Dramaturgische Höhepunkte oder eine erlösende Katharsis am Ende sucht man vergeblich. Dafür bleibt die Vertonung – vermutlich vorgabengemäß – zu kleinteilig. Das wäre sicher zu verschmerzen, wenn Alias Grace schillernde Kammermusik böte. Doch das ist nicht immer der Fall. Dafür wirkt die Musik dann doch zu gleichförmig, statisch und mitunter mit ihren Streicherostinati auch eine Spur zu schlicht. Und kann deshalb trotz ihres eigentümlichen Charmes nur phasenweise fesseln. Die Vertonung wird hier zum Teil des inszenierten Mysteriums: Alles bleibt offen und Projektionsfläche für den Zuschauer. Und das wirkt dann beinahe schon beliebig. Bei allem Respekt vor der mutigen filmischen Konstruktion: Ein klein wenig mehr Licht im schier undurchdringlichen Nebel hätte Alias Grace gewiss nicht geschadet.


(Die Musik zu Alias Grace ist bislang nur als Download von Lakeshore Records erhältlich.)

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